Augenaufschlag gefolgt vom Flügelschlag. Für einen kurzen Moment verläuft beides synchron, sodass man denken könnte, die Lider verursachen das Geräusch. Ich brauche eine Weile, um mich zu orientieren, ziehe die Decke bis zum Kinn und lausche. Das Gurren der Taube ist so nah, als könnte ich die Hand nach ihr ausstrecken. Die Linden rascheln im Wind und bieten ihr optimalen Schutz, als sie die Fensterbank wieder verlässt. Die Sonnenstrahlen zeichnen weiche Schatten auf die geblümte Tapete und streicheln das Antlitz meines Großvaters, was schwarz-weiß-gerahmt auf mich herabblickt. Säuselnde Stimmen dringen von der Straße nach oben und werden zunächst von einem Traktor, danach von einem Moped unterbrochen. Lautes Rufen, kurze Grüße, ich kann förmlich die hochgereckten Hände vor mir sehen und das Nicken der Passanten. Der Laden ist noch geschlossen, doch die schnatternde Schlange wird schon bald durch Schlüsselgeklimper und Türglocke einladend hereingebeten und sich im Inneren ausbreiten. Ich werde dann wissen, dass sie direkt unter mir ihre Gespräche fortführen, selbst wenn ich sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr hören kann. Das Lachen und Flüstern, das Schnattern und Wispern lullt mich allmorgendlich ein wie ein flauschiger Bademantel. Von unten wabert der süßliche Geruch von frisch gebackenem Kuchen, warm dampfendem Brot und knusprigen Brötchen in meine Nase. Sobald das Geschäft geöffnet ist, schäle ich mich aus dem Bett, taste nach meinem grauen Hoppel mit der rosa Latzhose, schlüpfe in Opas Pantoffeln und sehe zu, wie meine Füße vollständig in der braun-getupften Höhle verschwinden. Sie sind noch zu schwer, ich kann sie nicht heben, deshalb schlurfe ich mit ihnen über das Parkett wie auf Skiern. Hoppel rutscht mit, ich ziehe sanft an seinem Ohr, damit er aufrecht gehen kann. An der Treppe lasse ich die Puschen stehen, nehme den Hasen auf den Schoß und purzele auf dem Hosenboden nach unten. Die heimelige Wärme der Backstube umarmt mich, Frau Kirschner winkt mir über die Ladentheke zu und Herr Vogt trägt mich in die Spülküche. Er weiß genau, dass Hoppel auf sein Frühstück wartet – heiße Milch und ein Schüsselchen gefüllt mit luftig-goldenem Teig. Gestern gab es nur Zwieback und Fencheltee, er hatte Bauchweh und Fieber. Opa lunzt um die Ecke, wischt seine mehligen Hände an der hellblauen Schürze ab und wirbelt mich in die Höhe, dass es in meinem Bauch kitzelt wie Brausepulver auf der Zunge. „Na du alte Lerche, hast du gut geschlafen?“, setzt mich ab und zeigt auf das Schälchen mit dem süßen Brei. „Lass es dir schmecken“, stupst mit dem Zeigefinger verschwörerisch auf meine Nase und hinterlässt dort einen weißen Punkt. „Das ist gar nicht für mich“, erwidere ich entrüstet. „Das weiß ich doch“, lacht Opa liebevoll. „Du bist die beste Hasen-Mama, die ich kenne.“ Stolz recke ich meine Brust, ohne das Bewusstsein, selbst noch keine Mutter zu haben und mir auch keine zu wünschen. Andere Kinder haben Eltern, Mamas oder Papas, ich habe einen Opa. Das normalste von der Welt.
Ich schiebe Hoppel den gefüllten Löffel an den Mund, während sich meine Lippen unmerklich an seiner statt schief öffnen. Die klebrige Masse hängt wie ein sich verdünnender Faden nach unten, bevor sie mit leisem „platsch“ auf dem Boden landet. Den Rest lecke ich vorsorglich ab, er kann ja schließlich nicht alles essen, er ist noch so klein. Zum Schluss lege ich das Besteck beiseite, grabe meine Finger in jeden Winkel, bis das Gefäß so blankgeputzt ist, als sei es frisch gewaschen. Plötzlich dringt ein lauter Knall in mein Ohr, gefolgt von einem kurzen Schrei, Geklapper und sich entladenden Lachsalven. Ich reiße meine noch leicht verschlafenen Augen weit auf, raffe Hoppel schützend an mich und schiele vorsichtig um den Türrahmen. Uroma Meta liegt - wie ein Käfer auf dem Rücken, die Beine in die Höhe gestreckt, auf den Händen ein gefülltes Kuchenblech balancierend – im riesengroßen Brötchenkorb, die noch dampfenden Exemplare unter ihrem Hintern plattgedrückt. Was für ein Anblick! Welches Gelächter! Für die Liebesknochen – wie man bei uns früher die Eclairs nannte - reisten die Leute von weither. Opa war berühmt dafür. Wohlwissend um dieses Heiligtum – Meta sei Dank – wurden die guten Stücke gerettet und in Ehren in der Luft gehalten. Schmunzelnd lege ich mir die Hand vor den Mund und hebe meinen Hasen ein Stück höher, damit auch er die Misere in voller Pracht betrachten kann.
Jahre später, weitab vom Hahnenschrei am Morgen, von Gänsegeschnatter und Taubengurren, hatte das Essen nichts mehr mit Genuss zu tun. Traktorengeratter und Mopedgeknatter wurden durch rumpelnde Straßenbahnen, miefende Trabis und genervte Anweisungen aus dem Nebenzimmer ersetzt. Die Distanz zwischen den Welten konnte nicht größer sein, ich verstand deren Sprache nicht, fand mich nicht mehr zurecht. Vom Dorf in die Stadt, vom vertrauten Großvater zur fremden Mutter. Das Essen karg und kalt, fahl und nichtssagend – zweckdienlich, mehr nicht. Oft überwürzt und fettig, voller Zwiebeln und Kümmel – ob es passte oder nicht. Die Kehle schnürte sich zusammen, der Kloß im Hals hatte Schwierigkeiten, den Einheitsbrei hinunterzuwürgen. Erbrechen war fast leichter als schlucken. Es diente ausschließlich dem Überleben. Mit meinem Stiefvater setzte sich Angst und Scham mit an den Tisch. Beides wollte mitgefüttert werden, also blieb für mich nicht mehr viel übrig. Die Scham ließ nicht zu, dass meine Hand ein zweites Brötchen griff, sie verhinderte sogar, dass ich die zweite Hälfte des Ersten anrührte. Die Angst machte den Hals so eng und saugte allen Speichel aus meinem Mund, sodass die Krumen staubtrocken nach unten gepresst werden mussten. Die Konsequenz war eine Ernährungskur, bei der ich aufgepäppelt werden sollte, weil ich nichts mehr auf den Rippen hatte. Sobald man die vorbereitete Menge verspeist hatte, durfte man die „Fettbemmen“ zur endgültigen Sättigung verputzen. Angst und Scham, meine treuen Kumpanen, warteten zuhause auf mich. Erst jetzt blühte ich auf, fühlte mich leicht und beschwingt und spürte das große Loch in meinem Bauch, was man Hunger nennt. Es wurde gestopft mit Blaubeeren, die wir selbst pflückten und unsere Finger, Zungen, Zähne und Lippen verfärbten. Es wurde gefüllt von einer Hand, die mich durch den Wald führte, mir die Bäume erklärte und die essbaren Pilze zeigte. Einer Hand, die mir zärtlich über den Kopf streichelte oder anerkennend die Schulter drückte. Die mir Nachtisch reichte, der mich an den Duft der Backstube erinnerte. Ich befand mich auf dem dritten Planeten meines Lebens, wobei dieser nicht so weit entfernt vom Ersten lag.
Auf dem zweiten Planeten berichtete ich nach der Rückkehr meiner Angst und der Scham von meinen Erlebnissen, doch sie wendeten sich ungläubig ab. Das passte nicht in ihre Welt. Hier hing ein unsichtbares Verbotsschild an Kühlschrank und Speisekammer. Nur, was zu den Mahlzeiten auf dem Tisch landete, durfte von mir angerührt werden. Einmal jedoch kam der Appetit unangemeldet durch die Hintertür. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, er hatte nicht mal angeklopft. So überrumpelt war ich, dass ich seine Bitte um ein klitzekleines Stückchen Kuchen nicht abschlagen konnte. Es würde schon nicht auffallen, so dachte ich und gab nach. Weit gefehlt!
Zur Strafe musste ich – unter Gezeter und mordio – ganz allein meinen ersten Kuchen backen, meine Tränen spülten Scham von meinen Wangen und tropften schuldbeladen in den Teig. Der Kuchen war fertig, im Schweiße meiner Unsicherheit und Angst vor Kritik mit zitternder Hand dargeboten. Mit der Vollendung verstummte das Geschrei und machte einer Ignoranz Platz, die mindestens so viele Tage anhielt, wie es brauchte, bis der letzte Krümel in den Mäulern der Erwachsenen verschwunden war. Ich bekam weder ein Stück, noch einen Blick noch ein Wort. Weder ein nettes noch ein böses. Ich bekam nichts und war ein Nichts!
Bis zu den Ferien, wo der ruckelnde Zug mich ins Dorf bugsierte, der Hahn wieder krähte, die Tauben wieder gurrten, die Linden raschelten und mein Großvater die Arme ausbreitete. Hier gab es lauwarmen Muckefuck, in den ich Butterbrötchen tunkte, bis die Fettaugen mir lieblich aus der Tasse zuzwinkerten. Krümel am Mund und Mohn in den Zähnen. Da war Eierbrot bis zum Abwinken und Malzbier mit Strohhalm. Goldgelber Teig, der auf der Zunge schmilzt und sich weich im gesamten Bauch ausbreitet wie eine flauschige Decke der Geborgenheit. Hier war Brathering, der aussah wie ein ausgestreckt, schlafender Airedale Terrier, dessen Falten das Fell des Hundes in Form und Farbe nachbildeten. Wie er so dalag, dieser Fisch auf meinem Teller, träumte ich von diesem Hund, dem er ähnelte und mir als Gefährten wünschte. Der mich beschützt, mich tröstet und zuhört.
Hier waren noch Knusperflocken und Schleckermäulchen, ganz heimlich ein kleiner Tropfen Eierlikör mit Uroma Meta bei der Hitparade.
In alldem hätt`ich baden mögen. Da war ich satt – im Bauch und auch im Herzen. Da war keine Mutter und das war gut so! Hier passte sie nicht hin, gehörte nicht dazu.
Hier bekam ich alles, hier war ich alles!
Und sie war nichts…