Ich stehe kurz vor Ende meines ersten Buches. Keine Belletristik, auch kein Fachbuch, sondern die Sammlung von 144 (kurzen, aber realen) Lebensgeschichten, von Menschen, die einen Pflegeberuf ergreifen wollen. 44 davon sind Biografien von Männern und Frauen, die aus dem Iran, Afghanistan und Syrien geflüchtet sind. Ursprünglich waren es 45, aber eine davon hab ich aus dem Konzept genommen. Zum einen, weil die junge Frau gar nicht in die Pflege gehen wollte, zum anderen, weil ihre Geschichte es wert ist, als eigenes Buch veröffentlicht zu werden. Hier ist nun der Plot dazu, der mir seit zwei Jahren im Kopf herumgeht. Wie immer empfänglich für eure Kritik.
Wie ich lernte, Fußball zu lieben
Ich mochte Fußball nie. Ein Spiel, in dem zwanzig Leute einen Ball hinterherlaufen, um damit zwei andere anzuschießen, das war mir fremd wie nur irgendwas. Interessierte mich einfach nicht. Punkt aus, vergiss es. Aber dann kam Meriem.
Meriem ist neun, als sie im Fernsehen ihr erstes Fußballspiel sieht und sofort für diesen Sport brennt. Sie will Fußballerin werden. Ein Ding der Unmöglichkeit im Iran, wo Mädchen nicht mal öffentliche Fußballmatches sehen dürfen. Meriem ist das egal, sie sieht weiter Fußball, erst im Fernsehen, dann, mit elf, verkleidet sie sich als Junge und sieht ihr erstes Match live im Stadion von Teheran.
Daneben beginnt sie zu spielen. In Hinterhöfen, auf Müllplätzen, in abgelegenen Gegenden am Stadtrand. Noch ist sie nicht als Mädchen erkennbar, sie trägt ihre Haare kurz und benimmt sich auch sonst wie ein Junge. Ein Tomboy halt. Sie lernt schnell von den Jungs auf den Gassen Teherans und bald spielt sie besser als alle.
Aber sie ist nicht das einzige Mädchen, das auf Fußball steht. Eines Tages trifft sie ein weiteres, das sich ins Stadion geschlichen hat. Und die kennt noch mehr junge Frauen, die ihre Liebe zu diesem Sport entdeckt haben. Meriem schlägt vor, ein Mädchenfußballteam zu gründen. Und die Gören machen das wirklich.
Sie trainieren täglich in geheimen Verstecken. Und sie spielen gegen gleichaltrige Jungs, die dicht halten und sie nicht verraten. Die Mädels spielen wirklich gut, Meriem ist ihre Kapitänin und sie führt sie von Sieg zu Sieg in den Streetsoccer-Turnieren, die von den alten Männern mit den langen Bärten verboten sind. Doch eines Tages fliegt die Sache auf. Jemand verrät Meriem und sie wird verhaftet. Die Sittenwächter verhören sie tagelang, aber sie verrät keine einzige Mitspielerin. Sie wird geschlagen und mehrfach vergewaltigt. Da ist sie gerade mal fünfzehn Jahre alt.
Irgendwann gelingt ihr die Flucht. Ihre Eltern bezahlen ein Jahresgehalt, damit sie wenigstens über die Grenze bis in die Türkei kommt. Aber sie will noch weiter, nach Europa, konkret nach Deutschland, wo Frauen nicht nur Fußball spielen dürfen, sondern auch Weltmeisterinnen darin werden. In einem türkischen Flüchtlingslager ist aber erstmal Schluss. Wieder wird sie vergewaltigt. Und diesmal wird sie davon auch schwanger. Von wem weiß sie nicht, es waren zu viele, die über sie herfielen.
Als sie im siebten Monat schwanger ist, überquert sie mit 32 anderen in einem Schlauchboot das Mittelmeer und kommt in Lesbos an. Dort entbindet sie eine Tochter, die sie »Sam« nennt, nach Samantha Kerr, die im Alter von 15 Jahren im australischen Nationalteam debütierte und dort bis heute Rekordtorschützin ist.
2015 kommt Meriem mit ihrer einjährigen Tochter im Rucksack zu Fuß über die sogenannte Balkanroute nach Österreich, wo sie erst im Auffanglager Traiskirchen stationiert wird. Dort fällt sie einer Sozialarbeiterin durch ihr fast perfektes Deutsch auf, dass sie in dem türkischen Lager gelernt hat. Auf die Frage, welchen Beruf sie im Iran erlernt hat, antwortet sie: »Fußballspielerin«. Ein anderer Sozialarbeiter hört das und lädt sie ein, im Flüchtlingsteam gegen den lokalen Verein zu spielen. Meriem sagt zu und spielt als einzige Frau mit. Das Flüchtlingsteam gewinnt mit 8:1. Sieben der acht Tore schießt Meriem. Ein Talentscout sieht dabei zu und holt Meriem nach Wien, wo sie bis 2022 in verschiedenen Frauenteams spielt.
Als Ihre Tochter eingeschult wird, will sie das Spielen aufgeben. Das AMS (entspricht der deutschen Bundesagentur für Arbeit) sucht einen Job für sie, die ihr Berater dort für eine junge Frau aus dem Iran angemessen hält und eines Tages sitzt sie vor meinem Schreibtisch. Ich soll sie in eine Ausbildung zur Altenpflegerin vermitteln. Ich lehne genauso ab wie sie.
Heute ist sie die erste und bislang einzige iranische Mädchenfußballtrainerin für insgesamt vier verschiedene Wiener Vereine. Ihre neunjährige Tochter spielt – na was wohl?