Dürrenmatts Dramentheorie

Ich musste gestern einen Pressetext für das Theaterstück „Die Physiker“ verfassen und bin dabei auf Dürrenmatts Dramentheorie gestoßen. Die kannte ich noch gar nicht. Da „dunkler Humor“ wesentliches Stilmerkmal meiner Geschichten ist, fand ich die Umsetzung für „Die Physiker“ interessant.

    1. Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus.
    1. Geht man von einer Geschichte aus, muss sie zu Ende gedacht werden.
    1. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst mögliche Wendung genommen hat.
    1. Die schlimmst mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.
    1. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.
    1. Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
    1. Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem begegnet.
    1. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.
    1. Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie immer dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten (z. B. Ödipus).
    1. Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig).
    1. Sie ist paradox.
    1. Ebenso wenig wie die Logiker können die Dramatiker das Paradoxe vermeiden.
    1. Ebenso wenig wie die Logiker können die Physiker das Paradoxe vermeiden.
    1. Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.
    1. Es kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziel haben, sondern nur ihre Auswirkungen.
    1. Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.
    1. Was alle angeht, können nur alle lösen.
    1. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.
    1. Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.
    1. Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.
    1. Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu überwältigen.

Für alle, die damit nicht vertraut sind, Dürrenmatt aber genauso spannend finden wie ich, hier der Link zur Dramentheorie auf Wikipedia:

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Sehr interessant! Danke.

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Eventuell ein kleiner Trost, wenn man wieder mal an der Relevanz seiner eigenen Geschichten zweifelt. Ich verwende dazu ein wörtliches Zitat aus Dürrenmatts Theaterproblemen: „Die Forderungen, welche die Ästhetik an den Künstler stellt, steigern sich von Tag zu Tag, alles ist nur noch auf das Vollkommene aus, die Perfektion wird von ihm verlangt, die man in die Klassiker hineininterpretiert - ein vermeintlicher Rückschritt, und schon läßt man ihn fallen. So wird ein Klima erzeugt, in welchem sich nur noch Literatur studieren, aber nicht mehr machen läßt. Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muss so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt. Nur so wird sie wieder gewichtig.“
Gruss in die Runde T. D. Amrein

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Das ist eine der Fragen, die mich sehr beschäftigen. Die Antwort könnte ein Spagat sein. Hier ein populärer Stil, ein populäres Thema; dort ein gewisser Anspruch an mich selbst und an das Geschriebene. Bei einem Entwicklungsroman hat es - meiner Ansicht nach - ganz gut funktioniert. Bei einem Thriller bin ich mir noch nicht sicher.
Zudem wirft der zitierte Abschnitt gleich drei neue Fragen auf: Bin ich ein Künstler und was bedeutet das für mein Schreiben? (Ich muss dem Anspruch ja irgendwie gerecht werden). Wie steht es um die Bildung im Allgemeinen und wie um die der potenziellen Leserinnen und Leser? (Von meiner ganz zu schweigen). Und das führt zur nächsten Frage, nach den Alphabeten.
Dürrenmatt ist jedenfalls einer der Pfeiler, an denen ich mich festklammere.

Hallo Neri
Such nicht zu weit. Auch ein Dürrenmatt hatte seine Zweifel. Authentisch zu sein ist in den meisten Fällen besser als allen gefallen zu wollen. Jedenfalls langfristig. Das wollte ich andeuten. Du selbst bist ein Original. Ein Nachahmer ist bloß eine Kopie. Mit der Zeit erhältst Du deinen Schliff, so wie ein Edelstein. Ob du für andere ein Diamant bist oder nicht, wird sich irgendwann zeigen, wenn Du lange genug weitermachst. Finden kann man oft erst, wenn man aufhört zu suchen. Ein blöder Satz, ich weiß. Aber für mich war er schon öfter zutreffend.
Schönen Abend und liebe Grüße
T. D. Amrein

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