Drüben wird alles besser

Georg fühlt sich heute so leicht, ganz ruhig, ganz frei. Alles liegt klar vor ihm.
Es ist ein wunderschöner Tag im Mai. Aus dem Garten kommt Vogelgezwitscher, Fliederduft strömt durch das geöffnete Fenster, ein schwacher Lufthauch spielt mit den Vorhängen.
Georg macht Musik. Er spielt seine Lieblings-CD. Als sie zu Ende geht, zieht er seine Jacke an, knüpft sich sorgfältig die Schuhbänder und tritt aus dem Haus. Er setzt die Sonnenbrille auf und geht in Richtung Kurpark. Sein weißer Mercedes steht im Halteverbot, ein Strafmandat steckt hinter dem Scheibenwischer. Er überlegt, den Zettel mitzunehmen, lässt es dann aber bleiben. Eine Nachbarin grüßt im Vorbeigehen. Georg nickt ihr lächelnd zu.
Bald erreicht er die Unterführung der Hauptstraße. Gleich dahinter beginnt der waldähnliche Kurpark. Hier verstummt der Straßenlärm, es ist schattig unter den hohen Bäumen, kühl und ruhig. Der breite Hauptweg führt zum Zentrum des Erholungsgebietes. Georg zögert kurz, dann schlägt er den engen Waldpfad ein, der sich steil zum Aussichtsplatz neben dem Aquädukt hochschlängelt. Hinter der letzten Kehre tauchen graue Mauern auf. Es ist die Johannesruhe, ein wenig besuchter Rastplatz, von dem der Blick weit über die Stadt reicht. Ein rostiges Gittertor mit eisenbewehrten Spitzen versperrt den Zugang zum Aquädukt. Betreten verboten, steht auf einer verwitterten Tafel.

Erst vor zwei Tagen wurde er aus der psychiatrischen Klinik entlassen. Gegen den Widerstand der Ärzte. „Hol mich bloß raus, aus diesem Narrenhaus“, hatte Georg zu seiner Freundin gesagt.

Er sieht sich um, dann klettert er rasch über die Absperrung. Nach fünfzig Metern hat er die Mitte des Aquädukts erreicht. Georg bleibt stehen und blickt hinunter. Viele Menschen sind an diesem herrlichen Tag im Park. Fahrradgeklingel, Hundegebell und fröhliche Kinderstimmen dringen zu ihm herauf. Die Luft ist erfüllt von Föhrenduft, milder Wind streicht über sein Gesicht.
Ein schöner Abschied, denkt Georg und lächelt. Dann atmet er tief ein und lässt sich fallen.

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Mir gefällt Dein Text gut. Schön kurz und dennoch vermittelst Du einiges.

Stilistischer Tipp: Georg überlegt zwei mal kurz.
Vielleicht denkt er einmal, statt zu überlegen. Oder entscheidet sich einfach.

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Danke für dein positives Statement. :grinning: Die Kurzdoppelung habe ich bereits geändert. Merci für den Hinweis. Der Text ist schon über zwanzig Jahre alt und entstand aus traurigem Anlass. Ich habe ihn heute überarbeitet und auf das Wesentliche gekürzt.

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In unserer Schreibwerkstatt hatten wir neulich folgende Aufgabe:

Schreibe etwas zu dem Bild „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich.

Der Wanderer

Der Wanderer über dem Nebelmeer,
der wandert einfach nicht mehr.
Er wirkt auf dem Felsen so gar nicht munter
Und schaut gelangweilt auf die Wolken runter.
Er singt noch ein allerletztes Lied,
dann begeht er suizid.

Schön. Traurig. Echt.

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Das ist jetzt schwierig.
Einerseits, der Text könnte von mir sein. Ich mag und schreibe solch schonungslose und melancholische Texte selbst gern.
Andererseits, du sagst, du hast ihn vor über 20 Jahren geschrieben. Das entfacht in meinem Kopf gerade eine wahre Zeitmaschinenfrage. Ist sie jung? Bin ich alt? Sind solche Texte zeitlos? Gabs das immer schon? Wirds das immer geben? Ist es überhaupt relevant, wann der geschrieben wird?

Ich mag deinen Text, für mich fühlt er sich heimelig an.

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Hallo Manuela,
ich habe ein bisschen gebraucht. Zu Beginn hat mir das „Erleben“ gefehlt. Am Ende war das für mich okay. Ja, sehr traurig. Aber auch, oder vielleicht gerade deswegen, solche Texte dürfen geschrieben werden. Von daher, gut gemacht :dizzy:

Habt Dank für euer beider Statement. :grinning:
Ursprünglich war der Text um zwei Aspekte reicher, die ich gestern rausgekürzt habe. In seiner jetzigen Form würde ich ihn als klassische Flash-Fiction bezeichnen.
Anbei: Macht durchaus Spaß, alte, fast vergessene Texte wieder auszugraben und daran herumzubasteln.
LG

Hallo Manuela,

obwohl du im Grunde nur erzählerisch beschreibst, spürt man die Emotion und man schafft es nicht, aufzuhören.

Nur inhaltlich hat mich eine Kleinigkeit am Ende herausgerissen: „Gegen den Widerstand der Ärzte.“

Die Rechtslage ist wahrscheinlich überall anders, aber nachdem ich in der Familie gerade selbst so seine Situation habe: Will man sich selbst entlassen, gibt es keinen Widerstand der Ärzteschaft. Ist man im geschlossenen Bereich, kann keiner etwas tun.

Aber vielleicht war es ja auch das subjektive Empfinden von Georg. So oder so, ein schöner Text, passend zum nebeligen Raureif heute.

Danke, LazyBastard!

Der Widerstand der Ärzte besteht üblicherweise in verbalem Widerstand, angesichts anhaltender psychischer Erkrankung. Gegen medizinischen Revers kann sich jeder Patient selbst entlassen, sofern keine Gefahr für andere besteht. Jedenfalls in Österreich.
Freut mich, dass dir mein Kürzesttext gefallen hat. :slight_smile:

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@Manuela_K
Dein Text berührt mich. Es fühlt sich an, als würde ich Georg begleiten. Ich spüre die Nähe zur Natur, die Distanz zu den „weltlichen“ Dingen, zu Menschen und den scheinbaren Frieden, den sie schenkt.
Das Ende betrifft mich auf ganz eigene Weise.
Ich glaube, zu verstehen, was du ausdrücken möchtest und finde das Textende stilistisch sinnvoll.
Doch der Frieden ist für mich ein trügerischer. „Schön“, „lächelt“, „sich fallenlassen“ - dieses Bild steht in einem derart krassen Gegensatz zur Realität, dass es mich schmerzt.

Hallo Antje!
Den Leser emotional zu berühren ist wohl eines der schönsten Komplimente für Autoren.
Danke für dein Statement. :slight_smile:

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