Ich wollte auch mal was zum Lesen bereitstellen. Diesen Text hatte ich bereits in einem anderen Forum gepostet. Entstanden ist er, weil eine Teilnehmerin irgendwo den Spruch „Alcohol – because no great story ever began with a salad“ gelesen hatte. Also rief sie eine Herausforderung aus, eine gute Geschichte mit Salat zu schreiben. Leider gab es nicht viel Feedback, aber das besagte Forum ist auch wesentlich kleiner als dieses hier. Inzwischen ist etwas Zeit vergangen, außerdem habe ich eine Papyruslizenz erworben. Ich habe die Geschichte also nochmal grundlegend überarbeitet und freue mich auf konstruktives Feedback oder besinnungslose Lobhudelei
Nee ganz ehrlich, tobt euch gern aus, im Rahmen der Netiquette.
Wer die Geschichte nicht mag, kann immerhin mit etwas Mühe einen meiner Lieblingssalate dechiffrieren.
Für diejenigen, die lieber in Pap lesen: Vinaigrette.pap (24,7 KB)
Die Vinaigrette
Salat? Um diese Zeit ausgerechnet Salat?
Er konnte es nicht glauben! Nicht weniger als sechs Restaurants hatte er einmal besessen, zwei davon mit Michelin Stern! Aber sie wollte Salat?
Er ließ das Krankenhaus hinter sich. Die Stadt schlief, soweit man das von einer modernen Großstadt mit all ihren grellen Lichtern und Neon-Reklamen noch sagen konnte. Aber zumindest der Verkehr hatte nachgelassen. Die Kassiererin des 24-Stunden-Marktes schien ebenfalls zu schlafen. Jedenfalls reagierte sie kein bisschen auf die Salatzutaten, die sich Stück für Stück vor ihr auftürmten.
»Guten Abend«, sagte er ein bisschen lauter, als es nötig gewesen wäre. Tatsächlich erwachte sie aus ihrer Trance und begann wortlos seine Einkäufe über den Scanner zu ziehen. So langsam wie sich die Dame bewegte, musste er jetzt aber selbst darauf achten, nicht wegzudriften. Er ließ die Zutaten Stück für Stück in seinen Einkaufskorb fallen. So konnte er gleich den Einkaufszettel kontrollieren.
»200 Gramm Gouda« stand ganz oben. Das war nicht überraschend. Käse war immer ihre Welt gewesen. Nicht einmal er hatte gewusst, wie viele Sorten Gouda es gab, bevor sie die Stadt selbst besucht hatten. Wie ein kleines Kind war sie von einem Geschäft zum nächsten getänzelt.
Warum waren sie eigentlich in Gouda gewesen? Er kramte in seinem Kopf, während er den halben Bund Petersilie auf der Liste abhakte. Ahja, sie hatten doch seinen Abschluss gefeiert!
Sie hatte mit ihm gewettet, dass er als Jahrgangsbester abschließen würde. Er hatte sie für verrückt erklärt. Zu viele begabte Kochschüler allein in seiner Gruppe. Der Gewinner sollte einen Ort zum Feiern aussuchen und eine Strafe.
Er schloss die Augen und stand wieder im Flur der alten Schule. Der PVC-Fußboden quietschte rhythmisch, während er von einem Fuß auf den anderen trat und darauf wartete, bis seine Mitschüler entweder grinsend oder fluchend gegangen waren. So zögerlich, als müsste er sich bei der Liste entschuldigen, näherte er sich dem langen Zettel.
Doch sie hatte Recht behalten. Sein Name stand ganz oben. Und als er sich umdrehte stand sie bereits hinter ihm, bewaffnet mit zwei Fräulein-Antje-Kostümen. Noch am gleichen Tag saßen zwei Fräulein Antjes im Zug auf dem Weg nach Gouda. Etwas Peinlicheres würde er nie wieder im Leben tun. Trotzdem schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.
»Alles?«, fragte die Kassiererin. So wie sie klang, hätte sie wohl lieber weitergeschlafen. Aber er musste ohnehin los. Nach einem kurzen Blick auf sein Handy, nahm er seine Einkäufe und machte sich auf den Heimweg.
Während er im Markt gewesen war, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Hoffentlich würde das nicht noch stärker, er hatte keinen Schirm dabei. Er warf nochmal einen Blick auf den Zettel, aber alles hatte seine Haken. Außer Salz, Pfeffer, und Öl, die hatte er stehen lassen.
»Ein Koch, der die Basics nicht daheim hatte, verdient seinen Titel nicht«, hörte er seinen Lehrer irgendwo in seinem Hinterkopf. Gut möglich, dass er von dem Kerl ein Trauma davon getragen hatte. Immerhin hatte der alte Zausel ihn beinahe alles hinschmeißen lassen. Der Mann hatte das Gemüt eines Straßenkaters gehabt, aber das Ego eines Pfaus. Er würde nie vergessen, wie er einmal vor den anderen Lehrlingen zur Schnecke gemacht worden war, weil ihm ein Salatblatt beim Schneiden vom Brett gerutscht war. Salat! Kein Kaviar, kein Blattgold, Salat!
Wie ein Hase vor dem Fuchs stand er ihm. Nur dass der Fuchs dem Hasen zwanzig Minuten lang jede Unzulänglichkeit aufzählte.
Die Tirade sollte ihn verletzten und das tat sie auch. Kreidebleich wankte er aus dem Raum. Dann rannte er aus dem Gebäude und übergab sich. Heute konnte er nicht mehr sagen, wie er nachhause gekommen war. In seinem ganzen Leben würde ihm so etwas nicht wieder passieren. Bis dahin hatte er nie auch nur eine Träne vergossen. Doch jetzt, als das Ziehen hinter seinen Nasenflügeln begann, gab es kein Halten mehr. Mit dem letzten Rest Fassung wählte er ihre Nummer.
Hätte es damals schon Handys gegeben, sie hätte wohl beim Auflegen schon vor seiner Tür gestanden. Viel länger brauchte sie allerdings auch so nicht. Stundenlang stand er an ihre Brust gedrückt da.
»Beim nächsten Mal sagst du aber, wenn ich mir noch eine Extrabluse mitbringen soll, ja?«, sagte sie schließlich und zupfte ihr durchtränktes Oberteil zurecht. Er sah sie eine Sekunde lang an. Dann prusteten sie beide und lachten, bis der Schmerz verflogen war. Das Aufgeben hatte sie ihm schneller ausgeredet, als er ihnen Sandwiches belegt hatte. Stattdessen beschlossen sie, es dem Alten jetzt erst recht zu zeigen.
Am Ende seiner Studienzeit reichte ihm dieser auch tatsächlich die Hand, auf Augenhöhe.
Regen fiel auf seinen ausgestreckten Arm. Es schüttete. Das Wetter wollte offenbar zum heutigen Tag passen. Mit dem einzigen flachen Objekt über dem Kopf, einer Packung Paprikapastete, rannte er die letzten Meter und sprang fast durch seine Eingangstür.
Er verschloss die Tür hinter sich, als würde der Regen ihm sonst nachfolgen. Dann warf er die nassen Sachen auf den Kleiderständer und kontrollierte sein Handy. Trocken, ok. Er stellte erstmal alle Einkäufe in der Küche auf, wie jedes Mal.
200 Gramm Paprikapastete, eine grüne Paprikaschote, eine rote Paprikaschote. Er hielt einen Moment inne. So viel Paprika? Hatte er sich vergriffen? Er las den Einkaufszettel nochmal und nochmal und noch ein drittes Mal. Doch es stand genau so da! Er hätte sich weniger gewundert, wenn er nicht wüsste, dass sie Paprika nicht ausstehen konnte. Sie hasste das Zeug so sehr, dass sie sich sogar einmal eine Riesenszene in einem 3‑Sterne-Restaurant geleistet hatte.
Er setzte sich erstmal. Seit ein paar Monaten hatte er einen Stuhl in der Küche stehen. Wann war das noch gewesen? Er hatte zu dem Zeitpunkt schon ein Restaurant geführt, aber sie hatte auch noch ihre langen, roten Haare. Also waren sie jedenfalls noch jung gewesen, vielleicht kurz vor der Diagnose. Er sah sie förmlich vor sich stehen, wütend mit dem Finger auf die Karte zeigen.
Die Beilage zu ihren, zugegeben exquisiten, Hühnerfilets, waren große, rote Paprikastücke gewesen. Sie sprach so schnell und so oft von ›Vergiftung‹ und ›Frechheit‹, dass selbst er sie kaum verstand. Der arme Kellner schien erst recht nicht zu wissen, wie ihm geschah. Und dann nahm sie ihren Finger von der Karte und gab das Wort »Paprikahälften« frei.
Oh verdammt! Sein Kopf raste. Wie konnte er fachmännisch darlegen, dass der Ärger über rote Paprikahälften auch dann berechtigt war, wenn »rote Paprikahälften« auf der Karte stand? Vielleicht konnte ja er mit einer allgemeinen Informationspflicht zu Paprikahälften argumentieren? Allergiker oder so?
»Bitte verzeihen sie mir«, unterbrach sie seine Gedanken, »Wir werden zur Strafe Teller waschen.«
Er kicherte beim Abspülen der Paprikaschoten. Sie hatte wirklich ›wir‹ gesagt. Aber so war sie. Immer schon.
Nach einer Stunde Abwaschen hatte er schon bewiesen, dass kulinarische Studien nicht unbedingt talentierte Tellerwäscher hervorbrachten. Aber er musste ja noch diesen riesigen Stapel anheben. Einen Schritt und ein Tischbein später, verwandelten sich die Teller in Geschosse. Der Abend wäre weniger wohl freundlich ausgegangen, wenn sie nicht wie mit behänden Sprüngen Schlimmeres verhindert hätte. Kaum zu glauben, dass sie einmal so beweglich gewesen war. Der Ninjaeinlage brach endgültig das Eis. Am Ende waren sie sogar per Du mit Team.
Das Lächeln wollte ihm nicht vom Gesicht weichen. Mit ihr auszugehen hatte eigentlich immer zu Chaos geführt. Chaos, das er heute vermisste. Sein Handy vibrierte kurz, aber es war lediglich die Wetterapp, die ihn auf den Regen von vorhin hinwies. Pünktlich wie immer.
Eine Zwiebel stand noch auf der Liste. Die könnte er ja schonmal schälen, während er überlegte, welches Rezept sie diesmal gemeint hatte.
»Was meinst du, Herr Zwiebelkopf?«, sagte er zu dem Gemüse in seiner Hand. Dann lachte er aus vollem Hals bis er hustete.
›Herr Zwiebelkopf‹ war natürlich ihre Erfindung. Aber es war schon eine ganze Weile her, dass ihn jemand konsultiert hatte. Es war allerdings auch eine Weile her, dass sie überhaupt etwas in ihrer Hand gehalten hatte.
Wann war das gleich, das mit dem Zwiebelkopf? Die Geschichte mit dem großen Baum? Ja… Ja doch, die musste es gewesen sein.
Er konnte ihr kindliches Gesicht vor sich sehen, oben im Kirschbaum eines Nachbarn. In Licht der Mittagssonne sahen ihre Haare richtig feuerrot aus. Sie saßen beinebaumelnd auf dem gleichen dicken Ast und stopften sich eine Kirsche nach der anderen in die Münder.
Doch dann! Ein Knarzen der Schuppentür! Sie riss die Augen auf. Er riss die Augen auf. Und nach einer Sekunde des Schreckens ließen sie sich beide an einem langen Ast zu Boden sinken. Den letzten Meter fielen sie, weil der Ast brach, aber ihre geschundenen Knie würden sie erst viel später bemerken. Jetzt zählte nur die Flucht. Sie sprangen über die Beete, stürmten über die Wiese und rutschten förmlich unter dem Zaun durch. Erst dann bemerkten sie den alten Mann, der ihnen gefolgt war. Er stand noch in seinem Garten und hatte den Ast erhoben, als wollte er damit zuschlagen. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Sie gingen einen Schritt rückwärts, drehten sich um und rannten bis zum Ende der Straße und um die nächste Ecke.
Als sie sich sicher waren, dass er ihnen nicht gefolgt war und wieder atmen konnten, begannen sie zu lachen, laut und lang. Doch je länger sie lachten, desto unwohler fühlten sie sich. Sie hatten gestohlen und nicht einmal wahrgenommen, dass sie jemandem schaden würden. Scham schlich sich in die in die gute Laune, bis sie vollständig verflogen war.
Er hätte wohl mit der Schande gelebt und sich natürlich nie wieder dorthin getraut. Doch sie wahr anders. Sie wollte sich entschuldigen. Schnell kamen sie überein, dass sie zumindest ein kleines Geschenk mitbringen mussten. Als Kinder hatten sie zwar kein Geld, aber zu dieser Zeit waren Zwiebelmännchen gerade sehr in Mode. Nur wussten sie nicht ansatzweise, wie man eines herstellte. Das Ergebnis ihres Unwissens besaß schlussendlich einen riesigen Kopf und einen winzigen Körper.
Er hatte das kürze Streichholz gezogen, also klingelt er, nur um sich sofort hinter ihrem Rücken zu verstecken. Mit dem ersten Türspalt ließ sie sich auf den Boden fallen und hielt dem alten Mann die Figur hin, als würde sie dem König ihr Schwert darreichen. Die Entschuldigung hatten sie stundenlang eingeübt. Trotzdem drucksten sie jetzt herum. Der Alte hörte geduldig zu. Dann sah er eine Ewigkeit nachdenklich sein Geschenk an. Oder vielleicht kam es ihnen vor Anspannung auch nur so lange vor. Schließlich verzog sich die Miene des Mannes zu einem breiten Lächeln:
»Was meinst du, Herr Zwiebelkopf?«
Mit seiner freien Hand bat er die beiden herein. Er würde nie vergessen, wie es dort drinnen ausgesehen hatte. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lag der gebrochene Ast. Ein riesiger gemalter Baum prägte die Rückwand des Raums. Es war genauso ein Kirschbaum wie draußen. Die Zweige waren mit Namen versehen. Und mit Kreuzen. Und mit Jahreszahlen. Die meisten stammten aus den 1940er Jahren.
Erst jetzt begriffen sie, was sie eigentlich getan hatten.
Niemals wieder hatte einer von ihnen gestohlen.
Seitdem war Herr Zwiebelkopf immer mal in ihrer Hand erschienen, wenn es etwas zu klären und natürlich eine Zwiebel gab.
Diese schwieg sich ebenso aus, wie sein Handy. Also musste er selbst herausfinden, welches Gericht sie diesmal gemeint hatte.
In seinem Arbeitszimmer strich er mit dem Finger die Rückseite seiner Rezeptordner entlang. Ein schmaler Schnellhefter rutschte aus dem Regal. Er fluchte leise. Das verdammte Ding löste sich alle drei Tage! Aber er mochte es auch nicht wegwerfen. Hier hatte er jene Rezepte gesammelt, die ihm seine Freunde oder Familie geschenkt hatten. Kopfschütteln und Lächeln wechselten sich mit jeder Erinnerung ab, durch die er blätterte. Einige der Seiten waren sogar vergilbt. Doch dann … tatsächlich! Da war ein Blatt Papier in Klarsichtfolie mit der großen Aufschrift »Käse-Paprika-Salat«. Käse, Paprika, noch mehr Paprika, sogar einen halben Bund Petersilie und noch eine Zutat stach ihm ins Auge. Mit dem Rezept in der Hand, eilte er in die Küche.
Essig! Natürlich, Salz, Pfeffer, Essig, Öl und Wasser. Eine einfache Vinaigrette sollte es sein.
Er begann mit der Zubereitung nach Rezept. Das hieß in diesem Fall: alles würfeln, dann vermengen. Trotz des Zitterns in seinen Händen war er in Windeseile fertig. Was man einmal so beherrschte, das verlernte man nicht. Verrühren, dann folgte der obligatorische Geschmackstest. Er runzelte die Stirn. Nichts halbes und nichts ganzes. Ohne die Vinaigrette fehlte einfach die Seele. Natürlich wusste er, dass die Vinaigrette oder ein Dressing bei vielen Salaten entscheidend war. Aber hier trat dieser Umstand ganz gravierend hervor. Ohne die Vinaigrette war das einfach kein Salat. Manche Gerichte brauchten einfach eine Vinaigrette.
Darüber hatten sie doch auch bei seinem letzten Besuch im Krankenhaus philosophiert? Sie hatte in ihrem Bett gelegen und er auf dem Besucherstuhl gesessen. Das war wohl diese Art Erinnerung, die niemals richtig angenehm werden würde. Wenn er nicht gewusst hätte, wer da lag, er hätte sie nicht wiedererkannt. Die eingefallenen Wangen, die Oberarme, so dünn wie Zweige und die stoppelige Frisur, wo einst ihre langen roten Haare gewesen waren. Das alles ließ sie wie eine alte Frau aussehen.
»Hast du ihn endlich angesprochen?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte.
»Nein, ich … ich hab nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden.«
»Ach, der richtige Zeitpunkt ist es diesmal.« Sie hatte ihn angegrinst, obwohl sie noch immer an die Decke starrte. »Was macht die Familie?«
»Ach. Das Übliche.«
Ihm war nicht nach Smalltalk, nicht in dieser Situation. Aber sie ließ einfach nicht locker.
»Hast du wieder mit deiner Nichte gekocht?«
»Wir haben Salat gemacht. Ging ein bisschen schief.«
»Naja, sie ist ja erst fünf.«
»Es lag nicht an ihr. Ich hatte nicht alles im Haus, für die Vinaigrette.«
»Essig?« Hinter ihren Augen lag das gleiche Funkeln, das sie schon als Kind gehabt hatte, das sie immer gehabt hatte.
Er nickte. Wenigstens lachte sie, wenn auch leise. Seit seiner Schulzeit hatte er ein verrücktes Problem mit Essig. Es war nicht so, dass er ihn nicht mochte. Er vergaß nur ständig, welchen einzukaufen. So oft, dass sie ihm zum jedem Geburtstag eine Flasche geschenkt hatte, seit er zwanzig geworden war. Selbst jetzt kam regelmäßig ein Kurier. Das war ihr Werk. Sie hat immer ein Faible dafür gehabt, solche Kleinigkeiten lange im Voraus zu arrangieren.
»Manche Sachen brauchen einfach eine Vinaigrette…«, sinnierte sie vor sich hin.
»Die Vinaigrette rundet das Gericht ab«, erläutert er.
»Ohne Vinaigrette ist es nicht das Gericht, das es werden sollte?« Er konnte hören, dass sie langsam wegdriftete.
»Ohne Vinaigrette«, sagte er, »entfaltet es nicht sein Potenzial.«
»Manchen muss man halt auf die Sprünge helfen« Jetzt lallte sie schon.
»Und sei es mit Essig zum Geburtstag«, antwortete er.
»Hey«, flüsterte sie so leise, dass er sich nach vorne beugen musste »das heißt ich war deine Vinaigrette…«
›Du bist es immer noch‹, dachte er und öffnete seine letzte Geburtstagsflasche.
Gerade als er alles verrührt hatte, klingelte sein Handy. Praktisch, der Salat musste ja ohnehin noch ziehen. Diesmal war es nicht die Wetterapp.
»Hallo Frau Doktor, vielen Dank für den Anruf, und das zu so später Stunde!«
»Ja hallo, keine Ursache. Ich hatte es ihnen ja versprochen.«
»Ich nehme an die Werte sind so schlecht wie erwartet?«
»Leider ja.«
»Wie lange?«
»Ich weiß es natürlich nicht genau. Aber es ist weit fortgeschritten. Zwischen 6 und 8 Monaten. Je nachdem wie sich die Lage entwickelt.«
»Immerhin.«
»Es tut mir leid. Das ich ihnen nichts besseres sagen kann.«
»Das ist in Ordnung. Es war ja zu erwarten.«
»Verstehe.«
»Vielen Dank, Frau Doktor.«
»Nichts zu danken. Alles Gute.«
»Ihnen auch.«
Er legte sein Handy auf den Esstisch. Doch gerade als er zurück in die Küche zu gehen wollte, ertönte ein vertrautes Piepen. Seine Drehung wirkte fast tänzerisch.
Tatsächlich. Wieder eine E-Mail von ihr. Der Kopfzeile nach hatte sie die Nachricht kaum 5 Minuten nach der letzten abgesandt. Typisch.
Hey!
Naaaa? Hattest du Essig im Haus?
Ich hoffe der Salat schmeckt. Wenn nicht, komme ich dich heimsuchen!
Bis dann und guten Appetit!
PS: Die nächste Herausforderung kommt in ein paar Wochen. Dieses Vordatieren ist echt praktisch!
Sie hatte den Essig also bewusst aus dem Einkaufszettel herausgelassen. Natürlich, genau ihre Form von Humor.
Zurück in der Küche bereitete er sich ein Schälchen Salat zu. Vor dem Essen würde er aber noch das Rezept aufräumen. Doch als er die Folie in die Hand nahm, segelte ein Stück Papier heraus.
Zwei junge Menschen mit künstlichen Zöpfen und weißen Flügelhäubchen grinsten albern in die Kamera des uralten Fotos. Je länger er die beiden betrachtete, desto stärker wurde das Ziehen hinter seinen Nasenflügeln.
Er atmete einmal tief ein und stellte das Bild an einer Vase auf dem Esstisch auf.
»Hey Du! Es sieht so aus, als sehen wir uns schon bald wieder.«
Er nahm dem Löffel in die Hand und prostete dem Foto damit zu.
»Na dann… Guten Appetit.«
Danke fürs Lesen!
Edit: Version 2 nach Suses Post vom 16.11.2022