Die Papyrus-Leaks - Eine wahre Halloweengeschichte
Es war Halloween und auch noch Montag, und ich saß im Homeoffice fest. Bis zum nächsten Zoom-Meeting mit den Kollegen waren es noch fünfzehn Minuten, also rief ich das Papyrus-Forum auf, um die neusten Seitenwind-Beiträge zu lesen. Aufgabe war, einen gruseligen Text zu Halloween zu schreiben.
Ich checkte die Anzahl der Likes meines Beitrags (seit gestern Abend war nur ein Like dazugekommen!) und scrollte nach unten zu den aktuellen Posts. In einem war die komplette Aufgabenstellung mitkopiert, der eigentliche Text aber vergessen worden; beim nächsten handelte es sich um Beziehungsgespräche am Abendbrottisch, die zwar gruselig waren, doch aus anderen Gründen; dann folgte ein Beitrag von Royo (Fakeaccount?) über eine von Dämonen besessene Katze, die mit ihren Brekkies Pentagramme legte. Hm, nicht schlecht. Ich drückte auf das Buchsymbol zum Liken, in dem Moment ploppte mein Instant-Messenger mit einem lauten »AH-OH!« auf. Ich zuckte zusammen.
In der Bildschirmecke blinkte das Fenster mit dem Absender. Ed G. Snowflake. Wer zur Hölle war das? Ich öffnete die Nachricht. Das Chatfenster zeigte einen Link an. Man sollte ja nicht auf unbekannte Links von unbekannten Leuten drücken, aber http: ̷ ̷ papyrus-leaks-lorhien-seitenwind-intern﮳ru/ fegte meine Bedenken beiseite.
Eine schwarze Webseite erschien, darauf prangten in roter Gruselschrift drei Downloadlinks.
Ulli_Findelkind_finale_Version.pap hieß der erste.
Rasch lud ich die Datei herunter und machte sie auf. Kapitel 1 Der Köhler. Ich flog über die Zeilen. Der Köhler trug gemächlich einen frischen Stapel Holz zu dem Meiler.
Die Statusleiste zeigte die Seitenzahl mit 999 an. Kaum zu glauben! Endlich würde ich erfahren, was es mit der Geschichte um Wanderer Lorhien, Robin und Kairon auf sich hatte, die ich nur von Beispieldateien und Bildern aus dem Papyrus-Handbuch kannte (von dem ich stolze 0,5% gelesen hatte oder eher 0,05%).
Der nächste Link lautete Intern.rar. Ein Archiv also. Nach dem Entpacken sah ich, dass es sich um einen Ordner mit offenbar sämtlichen Team-Meeting-Protokollen handelte. Ich öffnete das letzte vom 30.10.2022. Sonntag?! Puh, die schufteten ja hart.
Erster Tagesordnungspunkt: Verpflegung. Ulli übergibt Hendrik das Wort. Der beschwert sich, dass die Ochsenaugen so an den Zähnen kleben. Leon schlägt für die zukünftigen Sitzungen Kalten Hund vor, woraufhin Sam zustimmt. @Elisabeth berichtet von ihrer Kaffee-Testwoche und stellt den neusten Bio-Fairtradekaffee fürs Büro namens Andenblut vor …
Gut, so interessant war das im Moment nicht für mich. Ich würde mir später anschauen, welches kompromittierende Material sich in den Protokollen verbarg.
Beim Lesen des letzten Links riss ich ungläubig die Augen auf. Seitenwind_Wettbewerb_Wochenaufgaben_bis_13_12_22.rar, darunter stand klein Passwort: Elisabeth.
Ich lud das Archiv herunter und doppelklickte darauf. Die Passwortabfrage erschien, ich tippte Elisabeth ein und bewegte den Mauszeiger zum OK-Button – nein, das konnte ich nicht tun! Es wäre den anderen gegenüber unfair, wenn ich die Aufgabenstellungen vorher wüsste, dann hätte ich einen entscheidenden … Ich drückte auf OK.
Die Datei wurde zu einem weiteren Papyrusdokument entpackt, und ich sah mich mit eingezogenem Kopf nach allen Seiten um, um sicherzugehen, dass mich ja keiner beobachtete, obwohl hier natürlich niemand war.
Beim Doppelklick ploppte erneut eine Passwortaufforderung auf, und wieder tippte ich Elisabeth ein, mit Erfolg. Ziemlich sinnlos, zweimal das gleiche Passwort zu verwenden, aber Glück für mich.
Ich las, und kaum hatte ich die anstehende Aufgabenstellung erfasst, kam die Einladung zu dem verdammten Zoom-Meeting, und es ging los. Stefan vom Key-Account-Management hielt einen Monolog, während ich gelegentlich nickend Interesse heuchelte. Anschließend sprach meine Vorgesetzte Miriam über Workflow und künftige Out-of-the-box-Events. Ich zwang meine Lider, offen zu bleiben.
Nach einer Weile klangen ihre Worte metallischer und kamen immer abgehackter bei mir an. Miriams Gesicht verzerrte sich. Das Kinn wurde länger, der Kopf breiter, ihre Augen verliefen wie Farbkleckse auf einem Gemälde. In den Videochatfenstern der Kollegen geschah das gleiche.
Ich bewegte meinen Kopf in Richtung Monitor und kniff die Augen zusammen. Stefans Lippen schwollen an, flossen wie Himbeersoße über seinen Fensterrahmen auf Miriams Kopf oder was davon übrig war. Ich beugte mich weiter vor, während mein Gehirn versuchte, eine logische Erklärung zu finden. Die Monitoroberfläche wölbte sich mir entgegen. Ich schnellte zurück. Plötzlich schoss etwas aus dem Monitor und traf mich an der Stirn.
Ich fiel vom Stuhl. Auf dem Boden krabbelte ich zur Steckdosenleiste und legte den Schalter um. Im Zeitlupentempo spähte ich über die Tischkante. Alles schien normal, der Bildschirm war intakt. Und ich wohl einfach überarbeitet.
Um Miriam schnell eine Entschuldigung zu schreiben, tastete ich nach dem Smartphone und entsperrte es. Seltsamerweise hatte es keinen Empfang. Mich fröstelte. Ich stand auf, legte es weg und ging an den Heizkörper. Er war kalt. Bestimmt hatte Frau Höhnisch wieder die Gasheizungsanlage im Keller abgedreht, die blöde Kuh. Leider war sie meine Vermieterin, also blieb mir nichts anderes übrig, als bei ihr zu klingeln und sie untertänig ums Wiederaufdrehen zu bitten. Hauptsache ich kam aus der Wohnung heraus, weg von diesem PC!
Im Treppenhaus war es merkwürdig still, aber meine Güte, das war halt ein Rentnerhaus und normal um die Zeit. Ich stellte mich wirklich an. Vor Höhnischs Tür straffte ich mich und drückte auf den Klingelknopf. Ich vergaß, ihn loszulassen, als ich das Schild las, denn da stand nicht Höhnisch, sondern Antivir. Hä? Ich nahm den Finger von der Klingel. Die Tür stand einen Spalt offen. Frau Höhnisch war doch sonst so auf Sicherheit bedacht …
Von drinnen vernahm ich leises Schmatzen.
»Frau Höhnisch?«
Ich drückte die Tür auf.
Das Schmatzen stoppte, und ich lauschte in die Stille. Ich betrat den Flur und rief nach ihr. Schmatz-schmatz, machte es wieder. Ich schlich an den Türrahmen vom Wohnzimmer. Ein tiefes Gurgeln erklang. Was zum …? Ich warf die Tür auf.
Mitten im Raum stand ein riesiger Käfig. Darauf ein Schild: Quarantäne. Und darin … ein … Ding.
Lilaschwarz mit Tentakeln, die sich durch die Gitterstäbe reckten und Teppich, Schrankwand sowie Zimmerdecke mit handtellergroßen Saugnäpfen abtasteten oder eben abschmatzten. Ich schluckte. Aus orange-glühenden Augen starrte es mich an. Dann verzog es seine Augen zu Schlitzen, röhrte, dass die Wände wackelten, und blähte sich auf. Ein Gitterstab zerbarst und flog über meinen Kopf.
Ich stolperte rückwärts aus dem Raum, hastete den Flur entlang ins Treppenhaus und rannte nach unten. Oben klirrte und schepperte es. Es wurde stockduster. Ich schaltete das Licht an und lief zur verglasten Haustür.
Draußen war es nachtschwarz, bis auf die grün leuchtenden Symbole, die wie Regenschnüre nach unten rannen. Das war ja wohl ein Witz! Ich riss die Tür auf und blickte in einen Abgrund.
»Das ist ja wohl ein Witz!«, brüllte ich in den Datenregen, erhielt aber keine Antwort.
Schmatz-schmatz.
Am Treppenabsatz klebte das Ding. Es quetschte sich zwischen Wand und Geländer und kam heruntergekrochen. Ich hechtete herum zur Kellertreppe. Rannte die Stufen hinab. Durch die Tür. Hämmerte auf den Lichtschalter.
Der Kellergang, einstmals vier Meter lang, erstreckte sich in die Unendlichkeit. An den Türen hingen Schilder, die wie Dateipfade beschriftet waren. C:\Programme\Papyrus\MeinMegabestseller … ich konnte es nicht mehr leugnen: Ich war in meinem Computer gefangen und wurde von einem dämonischen Supervirus verfolgt.
Schmatz-schmatz.
Ich sprintete los.
Nachdenken! Wie kam ich hier raus? Irgendeinem Pfad folgen. Aber welchem?
Hinter mir quietschte die Kellertür.
Schmatz-schmatz.
Ich rannte geradeaus weiter. Irgendwo würde ich schon landen.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Tentakel drückten sich durch den Kellergang. Schmatzschmatzschmatz. Es legte an Tempo zu, ich rannte noch schneller.
Wumms!
Ich ging zu Boden.
Als ich aufblickte, erblickte ich eine dicke Stahltür mit Nieten. Daneben ein Eingabefeld mit kleinem Lämpchen über einem Bildschirm. Benutzerabmeldung. Passwort?
»Zur Abmeldung vom PC braucht man überhaupt kein Passwort!«, schrie ich die Tür an. Aber sie blieb unbeeindruckt stumm und verschlossen.
Ich drückte mich hoch und stellte mich vor das Eingabefeld. Mit zitternden Fingern tippte ich mein Benutzerpasswort ein.
Das Lämpchen leuchtete rot auf, die Tür blieb zu.
Verdammt, na klar! Das Passwort lautete Elisabeth.
Rasch tippte ich es ein. Wieder leuchtete es rot.
Schmatzschmatzschmatz. Fuck!
Nochmal.
Langsam: E-L-I-S-A-B-E-T-H.
Nichts.
Ich versuchte es mit sämtlichem Namen der Papyrus-Crew, dann mit Lorhien, Robin, Kairon, Wanderer, Köhler, Seitenwind, Ochsenauge – vergebens!
Schmatzschmatzschmatz!
Mein Herz wummerte so heftig, dass mein Oberkörper vibrierte. Eiskalte Luft blies mir in den Nacken.
Dann fiel es mir ein …
Ich tippte Cheater ins Eingabefeld. Denn das war ich: eine Betrügerin.
Die Tür ächzte und öffnete sich unendlich langsam.
Ich drückte dagegen. Ein Tentakel schlang sich um meinen Oberarm. Ich riss daran. Das Viech zerrte und versuchte sich festzusaugen. Schmaaaatz!
Ich rupfte an meinem Arm und flog über die Schwelle …
Ich saß wieder im Stuhl vor meinem PC. Der Bildschirm zeigte die Oberfläche des beendeten Zoom-Calls an. Unten blinkte eine Nachricht von Miriam, dass ich wohl wegen Internetproblemen rausgeflogen war und die wichtigsten Infos in der Dropbox lagen.
Ich atmete durch.
Dann öffnete ich den Download-Ordner, aber die Dateien waren verschwunden. Mist! Ich rief die Chronik im Browser auf – auch da nichts. Also rekonstruierte ich den Link aus der Erinnerung. Seite wurde nicht gefunden.
Aber was sollte es? Ich wusste das nächste Seitenwind-Thema. Dieses Mal war ich vorbereitet. Ich öffnete Papyrus und begann zu schreiben: »Haben Sie einen Stift für mich, bitte?« – »Stifte hammwernich.« …