Die Bar der Weihnachtsmänner

Ich habe eine alte Geschichte revitalisiert :slight_smile:

Vielleicht gefällt sie Euch ja …


Die Bar der Weihnachtsmänner

Der Weihnachtsmann saß an der Bar, murmelte: „Es bricht einem das Herz.“ Er rührte gedankenverloren mit dem Finger in seinem halb vollen Bourbonglas. Den Bart hatte er vom Gesicht gezogen, dass er wie ein Lätzchen auf der Brust lag. Der große bärtige Mann hinter der Bar wischte Gläser. Nicht, weil es nötig gewesen wäre, sondern weil er Erfahrung mit traurigen Weihnachtsmännern hatte. Man sagte, das Chelsey´s sei seit ungefähr 1950 die Bar der Weihnachtsmänner. Niemand wusste genau, wann es seinen Anfang genommen hatte. Jedenfalls musste Anfang der Fünfzigerjahre der erste Kaufhausweihnachtsmann gekommen sein, um hier ein paar Gläser zu trinken, ehe er heim zur Familie ging. Oder in eine stille Wohnung in der Bronx, in Little Odessa, Tribeca, DUMBO oder Jackson Heighs in Queens.
Es war gegen zehn Uhr nachts am Heiligabend, der Weihnachtsmann saß allein an der Bar. Die anderen würden später kommen, wenn sie ihre Lohntüte in Empfang genommen hatten, aber noch nicht bereit waren, nach Hause zu gehen. Er hatte seinen Dienst in der Shopping Mall in Brooklyn um neun Uhr abends beendet, sein Geld erhalten und war mit der Metro hier hergefahren.
Er hob die Hand, bis der bärtige Riese hinter der Bar zu ihm sah, deutete auf sein Glas. Er trank es aus und stellte es sachte zurück auf die Bar.
Der Barkeeper kam, schenkte ein, und der Kostümierte sagte: „Es bricht einem das Herz.“ Robert musterte ihn kurz. Frank war groß und kräftig gebaut. Er hatte lange, graue Haare und einen flauschigen Vollbart. Und er trug Hosenträger, mein Gott.
„Was Robert? Was bricht einem das Herz?“
Der Weihnachtsmann, der Robert hieß, prostete Frank hinter der Bar zu und seufzte: „Die Kinder, Frank. Die Kinder. Sie und ihre Träume und Wünsche. Weißt du was? Ich wünschte, ich wäre der echte Weihnachtsmann. Santa Claus. Dann könnte ich ihnen mehr bieten als einen Schoß, auf dem sie sitzen können, und ein altes, behaartes Ohr, in das sie ihre Wünsche flüstern. Aber so …“
„Trink Robert. Der geht aufs Haus.“
„Du bist ne Seele von Mensch, Frank.“
„Ach, dieses eine Mal pro Jahr halte ich das aus. Schau, da kommen die Jungs vom Macey´s. Die kurven sogar schon mit dem Bus … Ho ho ho Santas, rein in die gute Stube!“
Die Tür ging auf, Schnee und laute Stimmen wehten herein, sickerten in den Fußboden der Bar. Robert sah zur Tür und lächelte müde, als er die Horde von Weihnachtsmännern sah, die bei der Tür hereinpurzelten. Auch zwei Schwarze dabei. Robert lachte und winkte ihnen. Als er sich zur Bar umdrehte, um sich seinem Trink zu widmen, war sein Lächeln verschwunden, in seinen Augen war ein verdächtiger Glanz.
Die Weihnachtsmänner verteilten sich an der Bar und in den Sitznischen. Sie nickten Robert und Frank zu, einer rief: „Century 21 Mann! Der Wievielte ist das, verdammt noch mal?“
Robert wandte sich um, hob das Glas und sagte: „Der Dritte. Und sicher nicht der Letzte, so wahr mir Gott helfe.“
Sie lachten schallend, Frank kam hinter der Bar vor und knarrte zu den Tischen, um die Bestellungen aufzunehmen.
Einer von ihnen ging zur Jukebox, warf ein 25 Cent Stück in den Schlitz und wählte Musik aus.
Ein besonders dicker Weihnachtsmann kam mit seinem Bierglas zu Robert, stellte sich zu ihm an die Bar und nickte ihm zu: „Wie geht’s dir?“
Robert nippte an seinem Bourbon und schüttelte langsam den Kopf: „Geht so. Ich bin jedes Mal froh, wenns vorbei ist. Ab Ende September bin ich zappelig und freue mich wie ein Kind. Und am 25. Dezember hänge ich in den Seilen wie ein Boxer, dem gerade die Scheiße aus dem Schädel geprügelt wurde.“
„Ich kenne das. Ist doch bei jedem so. Aber solange die Kleinen bei einem auf dem Schoß sitzen, in all dem Glanz, eingepackt in all die Musik, ist auch alles in Ordnung …“
„Ja, bis man abends nach Hause geht und über die Wünsche nachdenkt.“
„Ja.“
Der andere Weihnachtsmann nippte an seinem Bier und rülpste leise: „Hast du auch eine Liste?“
Robert konnte nicht mehr sprechen. Er wischte sich eine Träne von der Wange und nickte. Der Dicke schlug ihm in einer verzweifelt milden Geste der Anteilnahme und Männlichkeit mit der Faust auf den Rücken und sagte: „Ich auch. Wir alle haben unsere Listen.“
Robert wusste das.

Er sah zum Fenster hinaus. Die Jukebox schwieg, auf der Straße vor der Bar blieb der Schnee liegen, es war still. Es ging auf Mitternacht zu. Es waren noch ein paar Weihnachtsmänner gekommen, die meisten mit der Metro, einige hatten sich ein Taxi geteilt. Sie hatten ihre Bärte und Perücken abgelegt, die Jacken geöffnet, oder ausgezogen und über die Sessellehnen gehängt. Es roch nach Zigarrenrauch und Bier. Einige Tische waren zusammen gerückt worden. Robert nahm sein zum weiß Gott wievielten Male gefülltes Glas und setzte sich zwischen zwei Männer, die er kannte. Auf dem Tisch standen unzählige Biergläser, Rauch hing in der Luft. Und die rund fünfzehn Weihnachtsmänner scharten sich um die zusammengeschobenen Tische, lächelten, machten Scherze. Einer fragte: „Wer fängt an?“
Es wurde ganz leise. Der Barmann ließ sich ein Bier aus dem Zapfhahn. Dann ging er zur Eingangstür und drehte das Schild an der Tür um, so dass nun „closed“ von draußen zu sehen war. Er sah durchs Glas in das Schneegestöber. Dicke Flocken taumelten vom Himmel. Es war windstill. Stille Nacht, dachte er. Dann wandte er sich um und musterte die illustre Runde von Weihnachtsmännern: große, kleine, dicke, dünne, zwei Schwarze und ein chinesischer Santa Claus. Sie tranken, rauchten.

Und jetzt?

Einer setzte sich eine altmodische Lesebrille auf, hüstelte, holte er einen zerknitterten Zettel aus den Tiefen seiner Jacke. Gespräche verstummten. Er räusperte sich noch einmal, dann las er vor: „Hier steht: Ich mag bitte meine Schwester zurückhaben. Sie ist seit zwei Jahren weg und Mami glaubt, sie lebt auf der Straße. Bringst du sie zurück? Und: Papa trinkt so viel, dass Mama immer weint. Machst du, dass er aufhört?“ Er ließ den Zettel sinken, ein anderer, weiter links, nahm seine Liste und las vor: „Papi ist vor einem Jahr mit dem Flugzeug in den Himmel geflogen. Kannst du ihn mir bitte nicht doch noch einmal schicken, dass ich ihm auf Wiedersehen sagen kann? Und da: Mami und Papi haben sich gestritten. Und jetzt ist Papi weg. Ich will meine Familie haben. Kein Spielzeug. Keine XBOX, obwohl ich die auch gern mag. Nur meine Eltern, und dass sie sich alle lieb haben, ja?“
Robert nahm seinen Zettel, hustete und sagte: „Mein Bruder nimmt jetzt Drogen. Und jetzt lebt er am Bahnhof, obwohl es kalt ist. Mami sagt, er ist mit gottlosen Männern unterwegs und verkauft sich. Sie mag ihn nie wieder sehen. Ich versteh nicht, was sie meint. Aber er ist Bruder, ja? Und ich will ihn wiederhaben. Gesund und so. So wie er war.
Eine Mutter brachte mir ihren fünfzehnjährigen Sohn. Ein schwarzer Junge mit verkrüppelten Beinen, total verdreht. Es war ihm peinlich, als sie ihn auf meinen Schoß setzte. Ein paar Halbwüchsige lachten dämlich. Er sagte: Ich heiße Zacharias. Du bist ein Schauspieler, ich weiß das. Aber wenn ich es jetzt nicht mache, werde ich es nie tun. Ich fragte ihn: Was? Und er antwortete: Dir danke sagen. Danke, dass Menschen an ein Wunder glauben können. Zumindest einmal im Jahr. Vielleicht glauben nur die Kinder, die Babys halt. Selbst wenn es nur ein Kaufhauswunder ist. Du siehst echt aus. Und ich fragte ihn: Was wünscht du dir, mein Junge? Ich brachte das kaum raus, weil es mir den Hals zugeschnürt hat, ihr wisst, was ich meine.“
Die anderen nickten und seufzten.
„Er antwortete: Streetball spielen. Mit meinen Freunden. Nicht mehr auf der Bank sitzen, oder im Behindiwagen. Laufen, den Wind auf den Beinen spüren. Wenn es ihn irgendwo da im Himmel gäbe, glaubst du, er würde das für mich tun?“
Robert sah mit verschwommenen Augen in die Runde: „Was sollte ich dem Jungen antworten? Ich sagte: Vielleicht ist er da draußen. Und hört zu, ich meine wirklich. Und ich glaube, wenn es in seiner Macht stünde, würde er dir auf die Beine helfen.“
„Das hast du gesagt? Warum?“
„Weil ich es in diesem Moment glaubte. Weil ich ein alter Narr bin. Und weil es mir jedes Mal das Herz bricht. Deshalb.“ Die anderen Weihnachtsmänner nickten und schwiegen. Sie verstanden ihn zu gut.
Es ging gegen ein Uhr früh. Frank drehte in den hinteren Räumen das Licht auf. Die Weihnachtsmänner blinzelten ins rauchige Licht. Der Wirt sagte: „Geht nach Hause, Jungs. Ich freue mich jedes Jahr, wenn ihr hier seid. Und es macht mich traurig, euch so zu sehen. Aber jetzt habt bitte ein Herz für einen alten Mann. Ich will nach Hause. Ich habe einen weiten Weg. Gut?“ Ein paar standen auf und streckten sich, andere tranken ihre Gläser aus, obwohl das Bier darin schon schal und warm war. Sie zogen sich ihre Jacken an, stülpten Perücken und Hauben über; afrikanische, chinesische und amerikanische Weihnachtsmänner – hier in dieser schummrigen Bar in Jackson Highs, Queens, New York.
Frank stellte sich zur Tür und öffnete sie. Kalte Luft kam herein wie ein stilles Gebet, Rauchschwaden aus der Bar verloren sich im dichten Schneefall. Franks Lächeln war gütig, beinahe liebevoll: „Grüß deine Frau von mir, Mortimer, leb wohl Joe, bis zum nächsten Jahr. Robert, liebe Grüße an deine Schwester, Chang, küss deine Kinder von mir …“ Er gab jedem einzelnen die Hand, lächelte ihnen Mut und Hoffnung ins Herz.
Als alle das Lokal verlassen hatten, ging Frank zu den zusammengeschobenen Tischen und räumte die Gläser ab. Er leerte die Aschenbecher aus, und zum Schluss nahm er die Zettel, die sie liegen gelassen hatten, so wie sie es jedes Jahr taten. Er faltete sie sorgfältig zusammen und lächelte. Sie vergaßen sie immer, nahmen sie nie mit. Als ob sie all die Last hier zurücklassen würden. Er schmunzelte und flüsterte: „Ho ho ho. Es wird Zeit für ein Gebet.“

Als Robert im Freien stand, unter dem rostfarbenen Nachthimmel, aus dem es unentwegt schneite, lächelte er, als hätte man ihm eine große Last von den Schultern genommen. Er fühlte sich auch leichter. Beinahe beschwingt. Die Trauer um die unerfüllbaren Wünsche der Kinder war vergangen, aber er fühlte sich nachdenklich. Ein paar Kids rannten vorbei, schleuderten Schneebälle, verfehlten ihn um Meter, und riefen heiser: „Santa, sauf nicht zu viel!“
Robert machte: „HO HO HO!“ und ging ungerührt weiter.

Später, zu Hause in seiner kleinen Wohnung in Greenpoint, Brooklyn, küsste er seine in die Senilität abgetauchten Schwester aufs Haar, bereitete ihr Tee und setzte sich neben sie, um sie zu wärmen. Sie starrte, ohne zu blinzeln auf den hell erleuchteten Weihnachtsbaum. Er stand auf und zündete einen Sternspritzer an. Sie liebte Sternspritzer. Er flüsterte: Frohe Weihnachten Lisa. Bevor er sich zu ihr setzte, ging er zum Fenster und sah hinaus, seufzte: „Frohe Weihnachten, Kinder.“

Dann, im Jui

Robert stieg aus dem Wagen, schloss die Fahrertür und zog Luft zwischen den Zähnen ein. Es war Sommer. Es war nicht einfach heiß, es war kochend heiß. Little Odessa war im Sommer eine Bratpfanne, und der Liebe Gott briet sich Spiegeleier auf dieser Pfanne. Bis auf die heiseren Stimmen von ein paar Jungs war es ruhig. Anfeuernde Rufe und das Aufprallen eines Balles. Robert erinnerte sich, dass das Haus neben der Armenspeisung abgerissen worden war. Baufällig und so. Ein paar Penner waren vertrieben, der Platz betoniert worden, und seit neuestem spielten Jugendliche dort Streetball.
Robert war früher dran als nötig, aber er wollte Zeit haben, die Einkaufsliste für die Armenküche durchzugehen. Nicht nur, dass er einen Teil seiner mageren Pension dafür aufwandte, Lebensmittel zu kaufen, er half auch bei der Ausspeisung. Wenn man ihn fragte, warum er das tat, antwortete er: »Die Stadt hat mir viel gegeben. Jetzt bin ich alt und habe Zeit, etwas davon zurückzugeben.«
Er ging an der betonierten Fläche vorbei, und hier schien es noch heißer zu sein, Lieber Gott! Die Spieler auf dem Platz waren ein buntes Gemisch halbwüchsiger Jungs: Latinos, Schwarze, Chinesen. Robert dachte: Die haben´s verstanden. Liebe und Streetball kennen keine Rassen. Nur die Politik.
Einer schrie heiser: „Was ist los Zach? Schon müde? Beweg deinen dürren Arsch, wir brauchen ein paar Punkte.“
Robert blieb wie vom Blitz getroffen stehen, unfähig sich zu bewegen. Und nicht in der Lage zu begreifen, warum er stehen blieb. Hinter dem Spielfeld standen Parkbänke, eine davon unter einem verkrüppelten Baum, der Schatten spendete. Ein Teenager sprang von der Bank hoch, zeigte seinen Mittelfinger und lachte hell: „Bin schon da, scheiß dir nicht ins Hemd, Ronny!“
Der Junge, der Zach gerufen wurde, angelte den Ball aus der Luft, unendlich federleicht und elegant. Für einen schwarzen Jungen eher ungewöhnlich, hatte er glatte lange Haare. Robert dachte: Das ist schön. Das ist ganz toll.
Er blinzelte in den Himmel und schalt sich einen alten Narren. Kids spielen Streetball. Das tun sie nun mal im Sommer, wenn sie nicht grad am Strand oder im Freibad herum toben und Bikinischönheiten befummelten. Also?
Also was?
Er lächelte dem Jungen namens Zach zu, als er gerade zu ihm sah. Zach lächelte erstaunt zurück und winkte, schien aber verwirrt zu sein. Robert ging weiter, schüttelte verwundert den Kopf. Er dachte: Wieso macht es mich glücklich, diese Kids da spielen zu sehen?
„Mister? Kennen wir uns?“
Robert drehte sich um. Zach stand auf den Zehenballen wippend auf dem Gehsteig, keuchend, die Hände in die Hüften gestemmt. Robert machte ein paar Schritte auf ihn zu: „Ich bin mir nicht sicher. Kann sein, dass ich dich schonmal wo gesehen habe.“
Zach maß ihn mit durchwegs freundlichen Blicken. Einer rief vom Spielfeld: „Was will´n der von dir?“ Zach krähte: „Halt die Fresse Jimmy. Das passt schon.“ Sein Lächeln war hell wie die Sonne. Und ansteckend. Robert lächelte zurück. Sie sahen sich noch einen Moment an, dann wandte sich Robert ab und ging los, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Zach lief los, winkte seinen Freunden. Und spürte den Wind an seinen Beinen, als er lief und sprang, den Ball aus der Luft holte und im Korb versenkte.

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Oida, herst! :heart:

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Danke.

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Eine wunderbare Geschichte, vielen Dank dafür :heart: :mx_claus:

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Das ist eine wahnsinnig schöne Weihnachtsgeschichte. Puh, jetzt hast Du mich zum heulen gebracht, dabei ist das gar nicht erlaubt.
Wirklich schöne Geschichte.

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