Liebe MitForistinnen,
ich stelle euch hier ein Kapitel mitten aus einer Geschichte vor, an der ich schon seit sechs Jahren schreibe. Ich gebe zu, mit dem Ziel, mich selbst in den Hintern zu treten, um das Ding endlich fertig zu machen und in die Welt zu entlassen. Freue mich über eure Rückmeldungen , danke!
Die Anderen
Das stille dunkle Haus machte ihnen Angst. Obwohl jeder einzelne von ihnen wusste, wo in dieser Wohnung – so wie in allen anderen dieser Stadt auch – die Küche, das Schlafzimmer und das Bad gelegen waren, konnte sich keiner überwinden, vom Hausgang aus tiefer in die Finsternis vorzudringen, um nach Essbarem zu suchen, oder gar, um sich zu einem Bett vorzutasten, von dem man nicht wusste, ob dort nicht noch einer von den Anderen lag. Also saßen sie im Eingang auf dem Boden, geschützt vor dem Regen, aber hungrig und fröstelnd in ihrer durchnässten Kleidung. Mittlerweile war es auch draußen dunkle Nacht geworden. Kein Sternenlicht drang durch die Regenwolken; einzig vom Anfang der Straße, wo der Brand gewütet hatte, kam ein ersterbender roter Schein.
Wǒ konnte die Anwesenheit der Gefährten neben sich nur noch erahnen. Plötzlich knurrte ihr Magen lautstark. Luana, die es gehört hatte, verkündete schniefend, dass sie auch hungrig sei. Und dass ihr kalt sei. Und dass sie müde sei, und dass sie schrecklichen Durst habe. Keiner von ihnen hatte mehr Wasser. Wǒ bereute, ihre letzte leere Flasche vorhin weggeworfen zu haben; jetzt hätte sie diese einfach nur zum Auffüllen in den Regen hinauszuhalten brauchen. Luana fing an, still zu weinen.
Wǒ trat auf die Straße hinaus und hob das Gesicht in den Regen. Sie streckte die Zunge weit aus und fing die schweren Tropfen auf. Sie schmeckten bitter wie der Rauch über den verbrannten Häusern.
Schließlich raffte sich drinnen jemand ächzend auf und murmelte: »Ich schau mal nach.« Es war Bizi. »Vielleicht kann ich oben ein paar trockene Sachen und etwas zu Essen auftreiben. Kommt jemand mit?«
Dan erhob sich ebenfalls. Wǒ ging hinein und stellte sich zu den beiden. Sie brauchte unbedingt etwas zu essen. Mittlerweile fühlte sie sich so schwach, dass sie auch von den verdorbenen Würfeln essen würde, wenn sie welche fänden.
Mian blieb mit Luana im Eingang zurück. Die drei anderen tasteten sich blind durch denn Gang, über den Korridor und die Treppe hinauf. Oben tappten sie mit ausgestreckten Händen zur ersten gegenüberliegenden Tür. Dahinter befand sich in jedem Wohnhaus die Küche, die eigentlich nur ein Essbereich für die Bewohner war. Gekocht wurde hier von niemand, denn das Essen brachten die Maschinen von irgendwo her in den verborgenen Eingeweiden des Gebäudes.
»Lasst uns zusammenbleiben.« Wǒ flüsterte unwillkürlich. Sie hatte Angst, auf jemand zu treffen, der den Marsch der anderen Konsumenten nach Norden verschlafen hatte, oder über einen zu stolpern, der einfach nur apathisch irgendwo im Dunkeln auf dem Boden lag. Eine Hand griff nach ihrer. Nach einem Augenblick des Schreckens spürte sie, dass es Dans war.
Vor ihnen in der dunklen Küche kramte Bizi auf dem Esstisch und im Ausgabeschacht, dabei stieß er etwas um.
»Hier gibt es überhaupt nichts«, fluchte er leise. »Nicht mal eine Flasche Wasser. Schauen wir nach nebenan.«
Die nächste Tür im Gang führte ins Schlafzimmer. Wǒ hielt den Atem an, während Bizi dort drin herumraschelte.
»Hier sind zwei Anzüge«, murmelte er. »Besser als nichts. Mal sehen, ob die jemandem von uns passen.«
Er kam wieder zu ihnen an die Tür. Gerade als er sich an Wǒ vorbei schob, um noch ins Badezimmer am Ende des Ganges zu gehen, hörten sie von unten einen unterdrückten Schrei.
»Das war Luana!« Wǒ drehte den Kopf Richtung Treppenhaus.
Ein dünnes Quieken war im Hausgang zu hören, und dann ein kurzes heftiges Schnaufen. Danach war es wieder still.
»Was hat sie denn jetzt schon wieder?«, schnaubte Bizi.
»Ich sehe lieber mal nach«, sagte Wǒ. Sie ließ Dans Hand los und tastete sich an der Wand zurück zum Treppenabsatz.
Unten war die Finsternis nicht ganz so undurchdringlich: In einem düsteren unruhigen Widerschein von der Straße her konnte sie schemenhaft die letzten Stufen erkennen. Auf Zehenspitzen schlich sie hinunter und überquerte den Korridor. Im Schatten an der Ecke zum Gang nach vorne blieb sie stehen.
Im Eingang sah sie Mian und Luana, die dort noch immer auf dem Boden saßen. Doch etwas an ihrer Haltung beunruhigte Wǒ: Mian kauerte mit eingezogenem Kopf, den Rücken an die Wand gepresst. Er hatte Luana von der Seite fest an sich gezogen, so dass ihr Kopf in seinem Schoß lag, und presste seine Hand auf ihren Mund. Wǒ sah, dass sich die beiden so klein wie möglich machen wollten.
Draußen, direkt vor dem Eingang, flackerte gelbrotes Licht im Regen.
Sie waren zu dritt. Fremde Gestalten, die etwas Brennendes in ihren Händen in die Höhe hielten, Stöcke mit Feuer daran. Das Licht der Flammen tanzte über feine Netze auf geschorenen Schädeln.
Wǒ sah, dass sie graue Overalls trugen! Ihr Herz machte einen Satz – da draußen standen Schicksalsgenossen, Insassen aus einer Korrektureinrichtung, denen es ebenso ergangen haben musste, wie ihr und ihren Gefährten! Ein freudiger Impuls drängte sie, nach vorne zu treten und sich bemerkbar zu machen. Aber ein zweites, misstrauisches Gefühl hielt sie zurück. Warum versuchte Mian dort auf dem Boden neben der Tür, sich und Luana vor diesen Fremden zu verstecken?
Doch zum Verstecken war es zu spät: Die Fremden hatten die beiden entdeckt. Der vorderste, ein großer stiernackiger Mann, drückte dem zweiten seine Fackel in die Hand und stürzte mit einem Satz in den Zugang.
Mian versuchte, aufzuspringen und Luana mitzuziehen, weg vom Eingang ins Dunkel des Hausganges. Doch der andere war schon über ihnen. Er packte Mian am Stoff seines Overalls und hielt ihn fest. Der zweite warf seine Fackel in den Gang und kann dem ersten zu Hilfe, indem er Luana ergriff; der dritte trat dazu und leuchtete mit seiner Fackel.
Luana fing an, lauthals zu kreischen und krallte sich an Mian fest. Es gab ein kurzes Gerangel, in dem Mian sich aus dem Griff des Großen loszureißen versuchte. Der hielt ihn am Kragen gepackt und schob ihn auf Armeslänge von sich. Plötzlich hatte er etwas in seiner anderen Hand, ein langes schweres Stück Metall. Er holte damit kurz aus und hieb es Mian auf den Kopf.
Der schmächtige Körper glitt aus der Pranke des Schlägers und sackte leblos auf den Boden.
Luana verstummte sofort. Sie sah auf Mian hinab, um dessen Kopf sich eine rasch größer werdende Blutlache bildete. Aus der jungen Frau entwich jegliche Spannung, die Schultern und Arme hingen herunter, der Kopf fiel ihr auf die Brust.
Auch die Eindringlinge verharrten einige Augenblicke wie erstarrt.
Dann hob Luana ihr Gesicht. Ihre Augen blickten ins Leere.
In die Umstehenden kam wieder Leben. Sie gingen in Stellung, um den Kampf mit der jungen Frau fortzusetzen.
Doch Luanas Körper blieb reglos.
Gelähmt vor Schrecken sah Wǒ zu, wie die junge Frau ohne Gegenwehr von den beiden aus dem Gefolge des Stiernackigen mit weißen Stofffetzen gefesselt wurde. Danach beugten sie sich über Mian und fingen an, das gleiche mit dem leblosem Körper zu tun.
Doch die müde Stimme des Schlägers gebot ihnen Einhalt: »Lasst es. Durchsucht lieber das Haus.« Er wandte sich an Luana: »Sind da noch mehr von euch drin?«
Luana starrte nur wortlos durch ihn hindurch.
Er machte eine Kopfbewegung in den dunklen Gang. Einer seiner Begleiter nahm die Fackel vom Boden auf und machte sich mit dem zweiten daran, die Anordnung auszuführen.
Siedend heiß wurde Wǒ bewußt, dass sie Bizi und Dan warnen musste!
Doch jetzt war der Korridor in das flackernde Licht der Fackel getaucht, und die beiden Fremden, die auf die Ecke zukamen, hinter der sie sich noch versteckt hielt, würden sie unweigerlich sehen, sobald sie zur Treppe liefe.
Aber sie musste nach oben!
Sie setzte zum Sprung an – da packte sie etwas von hinten und riss sie zurück. Eine Hand legte sich über ihren Mund, und ohne dass sie den zugehörigen Menschen sehen konnte, wusste Wǒ, dass diese Hand Dan gehörte. Bevor sie sich versah, wurde sie rückwärts durch eine Öffnung in der Wand des Korridors gezogen, die sie in ihrer eigenen Wohnung an dieser Stelle noch nie gesehen hatte. Vor ihren Augen glitt schnell und lautlos eine Schiebetür zu, und sie befand sich mit Dan in einem dunklen engen Raum.
Die Tür vor ihnen musste aus getöntem Glas sein, denn durch sie hindurch konnte Wǒ abgedunkelt, aber deutlich sehen, wie draußen die beiden Unkonsumenten mit der Fackel in den Korridor traten. In der Mitte blieben sie stehen und leuchteten in beide Richtungen hinein.
Wǒ hielt zitternd ihren Atem an. Die beiden mussten sie doch hier drin sehen!
Vorsichtig lockerte Dan seinen Griff um ihren Mund. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich, damit sie ihn ansah. Nacheinander zeigte er auf die Tür, auf seine Augen und auf die Fackelträger im Korridor und schüttelte den Kopf.
Sie spähte hinaus. Ihr Herz schlug wie wild, als der Blick des einen sie direkt anzustarren schien.
Doch er nahm überhaupt keine Notiz von der Tür und dem, was dahinter lag.
Die beiden gingen weiter. Wǒ atmete erleichtert auf.
In diesem Augenblick erschien Bizi oben auf der Treppe.
»Was ist denn hier los?«, rief er. Er blieb auf dem Absatz stehen und schaute neugierig auf die Eindringlinge hinunter.
Atemlos sahen Wǒ und Dan dabei zu, wie Bizi Stufe für Stufe nach unten kam.
Unten trat jetzt der Mann mit der Keule zu den beiden anderen. »Sind da oben noch mehr von euch?«, rief er Bizi an und hob ihm drohend seine Waffe entgegen.
Bizi sah kurz über seine Schulter und schüttelte den Kopf. Er kniff die Augen zusammen und spähte mit schräggelegten Kopf an den anderen vorbei zum Hauseingang.
»Ist das dort Mian? Was ist mit ihm passiert?«
Der Mann blickte sich um. »Er ist –« Er unterbrach sich und zeigte wieder mit seinem Prügel auf Bizi. »Wenn du nicht willst, dass dir das gleiche passiert, dann komm runter und bleib friedlich!«
Bizi hob seine Hände und schritt langsam die letzten Stufen herunter.
Einer der beiden anderen Männern drückte dem Großen seine Fackel in die Hand. Gemeinsam mit dem zweiten ergriff er Bizi und fesselte ihm die Hände auf den Rücken.
»Was wollt ihr von mir?« Bizi sah den Anführer mit gerunzelter Stirn an. »Ich tue euch schon nichts.« Er musterte die Männer vom Kopf bis Fuß. »Ihr kommt auch aus einer Korrekturanstalt, oder? Wisst ihr, was mit der Welt passiert ist?« Er schüttelte den Kopf. »Wo sind wir da nur hineingeraten?«
»Was macht ihr hier?«, fuhr ihn der Große an. »Wo kommt ihr her, und was habt ihr vor?«
Bizi sah auf seinem Bauch hinunter. »Wir sind auf der Suche nach etwas Essbarem«, seufzte er. »Wie ihr wahrscheinlich auch. Aber hier drin gibt’s überhaupt nichts. Und um den zweiten Teil deiner Frage zu beantworten: wir kommen von Norden und wollen nach Süden.«
Die anderen sahen ihn fragend an.
»Naja.« Er zuckte die Schultern. »Angeblich ist dort im Süden, wenn ihr wißt was ich meine, irgendwann diese Stadt zu Ende, und es gibt eine andere, eine alte Stadt, in der alles ganz anders sein soll als hier.« Er deutete mit dem Kinn auf Mian. »Er hat das erzählt. Angeblich kommen wir alle von dort her, und haben es nur vergessen. Ich dachte, vielleicht ist er verrückt, vielleicht hat er recht. Jedenfalls, schlimmer als hier kann es dort im Süden auch nicht sein. Ich hatte keinen besseren Plan, also bin ich mitgegangen. Und genauso war es mit der Kleinen, denke ich. Sie heißt übrigens Luana.« Er räusperte sich. »Mein Name ist Bizi. Und was ist mit euch?«
»Ich bin Dshu-Si«, sagte der Große. Seine Stimme klang jetzt wieder müde. Er sah sich zu den anderen um. »Und das sind … ein paar von meinen Leuten. Du hast recht, wir gehören auch zu denen, die aussortiert wurden. Unsere Einrichtung war nicht weit von hier, auf der anderen Seite des Parks. Nachdem es passiert ist, sind wir hier rüber gekommen. Weil es hier noch etwas von dem alten Zeug zu essen gab …« Er zeigte auf Mian. »Das mit deinem Freund tut mir leid. Jemand von uns hat euch bei den brennenden Häusern gesehen. Wir wussten nicht, mit wem und mit wievielen wir es zu tun hatten, und deshalb haben wir die Gegend durchsucht. Und als wir vorhin hier rein kamen, wurde es plötzlich so laut … Ich wollte ihn nicht gleich … Ich glaube, er ist tot.«
Wǒ und Dan sahen sich erschrocken an. Zu Wǒs Bestürzung verzerrte sich Dans Gesicht vor Gram, und Tränen erschienen in seinen Augenwinkeln.
Falls Bizi da draußen so etwas wie Trauer oder Betroffenheit verspürte, ließ er sich nichts anmerken. Er redete weiter im Plauderton mit Dshu-Si. Dieser erzählte ihm, dass er und seine Leute ganz in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen hätten. »Dort ist es warm und trocken, und es gibt etwas zu essen. Kommt ihr mit?«
»Na klar« Bizi nickte eifrig. »Klar, oder, Luana?«
Alle schauten Richtung Hausgang, wo Luana außerhalb der Sicht von Wǒ und Dan wohl noch immer bewegungslos dastand. Von dort war nichts zu hören.
Auf ein Nicken Dshu-Sis hin nahmen seine Leute Bizi die Fesseln wieder ab. Dann gingen sie alle nach vorn zum Ausgang, wo Wǒ sie aus den Augen verlor. Dan und sie sahen sich einige Augenblicke horchend an. Als es draußen wieder still und dunkel war, ließ Dan die Schiebetür aufgleiten.
Sie waren fort. Im Gang lag nur noch Mians Leichnam.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Wǒ verzweifelt.
Dan ging zum Ausgang und schaute sich nach allen Seiten um. Er winkte Wǒ zu sich und deutete in die Richtung, wo sie zuvor an den brennenden Häusern vorbeigekommen waren. Ein Stück entfernt sahen sie im Regen gerade noch das wankende Licht der Fackeln auf die dunklen Ruinen zuwandern.
Dan zeigte mit dem Kopf dorthin, trat auf die Straße und zog Wǒ mit sich.
Sie zögerte. »Wir sollen ihnen folgen, meinst du? Ich weiß nicht warum, aber ich habe kein gutes Gefühl bei diesen Leuten.«
Dan zog den Kopf ein, legte den Finger an den Mund und machte mit beiden Händen beschwichtigende Gesten. Dann zeigte er wieder mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger zuerst auf seine Augen und dann dem sich entfernenden Fackelschein hinterher.
»Also gut«, sagte Wǒ. »Schauen wir uns an, wo sie die beiden hinbringen. Vielleicht brauchen sie Hilfe. Ausserdem möchte ich sehen, was es in diesem Lager zu essen gibt.«