Die 90. Minute
„Hier!“ Markus wedelte mit dem Arm, sprintete in den Strafraum. Sein Mitspieler, verfolgt von zwei Gegnern, hob den Kopf, sah wieder auf den Ball und passte. Exakt zum richtigen Zeitpunkt. Exakt in seinen Lauf. Kein Lehrbuch, kein noch so kritischer Trainer hätte dieses Zuspiel kritisieren können. Ein Gegner grätschte ins Leere, zwei weitere sahen dem Ball hilflos hinterher. Von rechts kam ein weiterer Verteidiger angeflogen, warf sich in die mutmaßliche Schussbahn. Markus sah nur auf den Ball - und die Zeit schien ebenso den Atem anzuhalten wie die Zuschauer.
Unendlich langsam rollte der Fußball über den Rasen. Gegner wie Mitspieler, die heranjagten, wirkten, als müssten sie sich durch zähen Sirup kämpfen. Markus spürte jede Faser seines Körpers, als er zum Schuss ausholte. Sein Manndecker schwebte mit gestrecktem Bein heran, kaum schneller als eine Wolke bei Windstille. Der Aufschrei des Publikums dehnte sich endlos. Langsam, wie in Zeitlupe, sprangen die Zuschauer von den Sitzen.
Fast war der Ball heran. Markus nahm die Halme wahr, die sich unter der Lederkugel krümmten. Fühlte die Muskelzellen seines Oberschenkels, die seinen Fuß nach vorn katapultierten. Der Schnürsenkel schwebte hinterher, folgte der Bewegung des Schuhs. Noch Zentimeter …
Die Zeit schnappte zurück - und Markus` geballte Energie entlud sich in einem donnernden Torschuss.
Es klingelte. Wieder einmal, wie jedes Jahr. Es war klar, wer draußen stand.
Markus stand auf, schlurfte zum Eingang und öffnete die Tür: Josef, wie erwartet.
Alt war er geworden. Die grauen Haare, damals noch schüchterne Einzelgänger an seinen Schläfen, hatten längst die absolute Mehrheit auf dem Kopf übernommen. Die Schultern waren leicht nach vorn gefallen, der Bauch gewachsen. Nur das amüsierte Funkeln in den Augen war geblieben. „Hallo Markus. Du weißt, weshalb ich hier bin?“
„Finale.“ Markus ging voraus ins Wohnzimmer und ließ sich auf einen der Polstersessel fallen.
„Ohne dich hätten wir damals nicht gewonnen.“
Markus brummte etwas Unverständliches. Es war ihm unangenehm, daran erinnert zu werden.
Josef gab ihm einen freundschaftlichen Schubs und grinste. „Du weißt, dass ich Recht habe. Und deshalb besuche ich dich heute ebenso wie in den vergangenen vierundzwanzig Jahren, um dich daran zu erinnern.“
Markus seufzte. Manchmal hatte sein Kumpel einen seltsamen Humor. Gewiss, sie neckten sich regelmäßig, aber das …
Josefs Grinsen wurde noch breiter. „Hättest du den Ball anders getroffen, wäre es nicht zur Verlängerung gekommen. Und auch nicht zum Elfmeterschießen, das wir gewonnen haben.“ Sein ehemaliger Gegenspieler grinste. „Und deinen Ball - ich glaube, den suchen sie noch heute im Gebüsch …“