*Hallo zusammen,
passend zum 2. Advent eine neue Wintergeschichte von mir. - Bin gespannt auf euer Feedback.
Wünsche allen einen schönen Sonntag. *
+++
Der Lichtfuchs – Eine Wintergeschichte
Die Heidewiese lag da wie eine zerknitterte Landkarte. Der Lichtfuchs war gestürzt und lag seitlich auf dem Boden. Er war mit dem Bein in eines der tückischen Löcher geraten, welches marodierende Wildschweine in der Nacht zuvor gewühlt hatten. Das bisher braune Fell des darnieder liegenden Tieres war staubbedeckt und hatte seinen Glanz verloren.
Aus dem nahen Skabyer Schloss war Hilfe herbei geeilt. Mit gedämpften Stimmen beriet man, was zu machen sei. Der Atem vor den Gesichtern kondensierte in der nach Schnee riechenden Dezemberluft. Schließlich verteilte man sich um das Pferd herum: zwei links, zwei rechts, einer vorn am Halfter und einer hinten. Eine Skulptur der Verzweiflung.
Jeder Versuch, den dreißig Jahre alten Haflinger aufzurichten, war ein ritueller Kampf mit den Gesetzen der Natur. Immer wieder versuchte man es, schob, zog, drückte. Das war gefährlich, denn Max schlug aus, im verzweifelten Bemühen, Grund unter die Hufe zu bekommen, sich aufzurichten. Beinahe schien es zu gelingen. Kam vorne auf die Beine. Stemmte sich hinten ab. Man klopfte ihm auf die Hinterbacken mit der Hoffnung, dies motiviere ihn. Eine letzte Anstrengung! – Und sackte Schaumfetzen schnaubend, mit bebenden Flanken und aus tiefster Seele röchelnd zusammen. Sein flachsfarbener langer Schweif peitschte wie ein letzter Widerstand gegen das Unvermeidliche hin und her.
Pause. - Man sprach ihm gut zu, flüsterte etwas ins Ohr: Nocheinmal. Du schaffst das! Ja, wir helfen dir. Komm! Auf jetzt! Tatsächlich, diesmal schien es zu klappen. Hier liegenbleiben war keine Option. Das ging nicht! Musste doch nach Hause in den Stall. Ausruhen. Morgen wieder weiden und frisch duftendes Heu fressen … – Und schaffte es wieder nicht. Die Kräfte des Tieres schwanden. Ebenso unsere. Alle ließen den Kopf hängen.
Dunkelheit breitete sich aus, langsam und unerbittlich. Und über ihnen - ein kosmisches Ereignis: Jupiter und Saturn, zur Wintersonnenwende so nah beieinander wie nur alle 400 Jahre. Ein astrologisches Omen, das an jene biblische Nacht erinnerte, in der Sterndeuter dem Licht folgten, das einen König verkündete.
Der neue ‚Stern‘, oft genauso unzutreffend auch als ‚Komet‘ bezeichnet, schien uns an diesem Abend etwas verkünden zu wollen und erhellte die Szene auf der Wiese. Der Glanz der Gestirne spiegelte sich in den sanften und weit aufgerissenen Augen des Pferdes. Erschrecken, Furcht und Bedauern lagen in seinem Blick. Die Ahnung des nahen Endes. Jemand weinte. Stille breitete sich in der Nacht aus. Da hinein tropfte die Erkenntnis, dass alle Anstrengung nicht mehr helfen würde. Zögern vor der einzig übrigbleibenden Entscheidung und der Frage: Wer? Der Halter des armen Tieres konnte sich nicht überwinden, gelähmt von Schuld und Feigheit. Das Schweigen und der Schmerz waren schließlich unerträglich. Dauerte an. Wollte nicht vergehen. Die Zeit frostete die Kronen der Kiefern.
Max’ blassblaue Augen spiegelten mehr als nur Angst. Sie reflektierten Geschichten: von saftigen Weiden, von heiteren Sommertagen und dem Klang seiner Hufe, die so viele Kilometer über die alten Pflasterstraßen dieser Welt getrabt waren. Nun schimmerten sie fahl wie Jupitermonde, Fenster einer anderen Existenz.
Wie aus dem Nebel geboren, stand plötzlich die Jägerin da. Niemand hatte ihr Kommen gesehen und später zu sagen gewusst, wie lange sie schon schweigend dabei gestanden hatte. Der Schuss, als er fiel, war kein Knall, sondern eine Symphonie der Barmherzigkeit.
Der Bann war gebrochen. Das Gesetz des Handelns war wieder in Kraft und löste befreiende Geschäftigkeit aus. Einer rief den nächsten Bauern herbei. Der rumpelte zwanzig Minuten später angetrunken und unanständige Lieder grölend mit seinem Schinderkarren auf die Wiese. Wie wir es schafften, den beinahe eine Tonne schweren Kadaver auf die Pritsche zu hieven, ist nicht mehr klar. Doch endlich schaukelte der Karren mit dem Kadaver davon. Die gelb-rötlich leuchtenden Laternen am Kutschbock tanzten durch das Dunkel des Waldes davon wie verlorene Seelen.
Drei Tage darauf: Heiligabend. Die Stille lastete schwerer denn je. Das Virus - ein unsichtbarer, ungebetener Gast – hatte die Welt heimgesucht und alle Traditionen abgewürgt. Keine Kirchenglocken, keine Weihnachtslieder, nur das maskierte Atmen einer Menschheit in Quarantäne. Dinge geschahen – nicht mehr, die sonst diese Tage mit all dem anfüllten, was man lieben oder meiden kann. Dinge geschahen – nicht mehr, die man niemals für möglich gehalten hatte. Ein Wesen war von uns gegangen, ein anderes in ungezählten Kopien über die Welt gekommen und wir fragen uns: Welches Zeichen war uns da gegeben worden, was für eine Botschaft verkündet? War Max’ Tod ein Omen für diese seltsame Zeit? Wird schlimmstenfalls wieder alles gut? Nach einem mörderischen Jahr keimt Zuversicht auf, zart wie ein Schneekristall. Man hofft auf ein Mittel gegen die Seuche. Diese Hoffnung ist der eigentliche Komet, in dessen Schein sich das Wunder der Weihnacht diesmal vollzieht. Und in den Weiten zwischen Sternen und Heide, galoppiert Max umher, unsichtbar, unsterblich, eine Erinnerung an das, was bleibt, wenn alles andere vergeht und nur eine Geschichte bleibt.