Der Junge, der vom Meer träumte

In einem bescheidenen Dorf, weit entfernt vom Meer, lebte ein kleiner Junge.
Jeden Abend, während er in den Himmel blickte, stellte er sich vor, wie es wäre, das Rauschen der Wellen und die Möwen zu hören, den Wind auf seiner Haut zu spüren und das Salz auf seiner Zunge zu schmecken. Seine Großmutter erzählte ihm oft von den großen Wellen und dem Geruch des Ozeans.

In jener stillen Nacht legte sich der kleine Junge in sein Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen. Er lauschte dem Flüstern des Windes, der durch die Bäume strich. Er stellte sich vor, es seien die Wellen des Meeres. Langsam schloss er die Augen, während die Geschichten seiner Großmutter in seinem Kopf widerhallten. Seine kleine Stoffmöwe, die immer neben ihm lag, beschützte und bewachte ihn.

Plötzlich erwachte er aus seinem tiefen Schlaf. Leise schlich er die Treppen hinunter und ging in die Küche. Er schmierte sich ein paar Brote, nahm eine Flasche Wasser mit und ging zurück in sein Zimmer. Dort packte er alles in seinen blauen Rucksack. Dazu legte er sein Lieblingsbuch über das Meer.
„Komm.“, sagte er zu seiner Stoffmöwe. „Wir gehen jetzt ans Meer. Und du zeigst mir den Weg.“

Der kleine Junge wusste, dass der Weg lang sein würde, doch die Sehnsucht nach dem Meer trieb ihn weiter voran. Die Stoffmöwe, sein treuer Begleiter, sagte: „Nach Norden müssen wir. Da ist das Meer.“ Während er durch die nächtlichen Felder und Wiesen wanderte, lauschte er den Geräuschen der Nacht. Jedes Rascheln und jeder Windhauch schien ihm zuzuflüstern, dass er auf dem richtigen Weg war.

Nach einigen Stunden, als der Morgen graute, erreichte er schließlich einen Hügel, von dem aus er das Meer sehen konnte. Seine Stoffmöwe flüsterte ihm zu: „Wir sind gleich da. Sieh doch, da vorne. Ich sehe schon meine Artgenossen.“

Dann legte die Möwe einen Flügel um den Kopf des kleinen Jungen, der anfing zu lächeln.
„Jetzt bist du bei uns.“
Auf einmal erhellte sich der Horizont und der kleine Junge spürte, wie sich etwas an ihm veränderte.
Er legte seine zarten Hände auf die Schultern und bemerkte, dass er Flügel bekommen hatte. Sie waren weiß und schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne. Mit einem Gefühl von Freiheit breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die unendliche Weite des Himmels. Die Welt, die er hinter sich ließ, verblasste, als er dem Horizont entgegenflog. Und schließlich flog er über das Meer, das sich unter ihm erstreckte. Das Meer, von dem er so lange geträumt hatte.

:face_holding_back_tears:

(c) Die Schreibmöwe

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Dieser Text sagt so viel und das mit so wenigen Worten.

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Ich bin ehrlich: Ich musste beim Schreiben des etzten Absatzes auch weinen. :face_holding_back_tears:

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Ja. Aber seltsamerweise hab ich mich auch für den Jungen gefreut. Weil er jetzt ganz leicht ist. Und fliegt. Und unter ihm das Meer.

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Berührend. Wirklich.
Und bei jedem, der jemals ein Möwenkind kennenlernen durfte erweckt Dein Text wieder diese warme Leere, diese hoffende Verzweiflung… und das Gefühl in diesem Leben manchmal einfach danebenstehen zu müssen.

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