Der Esstisch oder: Tagebuch einer Familie

Gekauft haben wir ihn, als mein erstes Kind zu uns kam. Es sollte unbedingt an einem Esstisch sitzen und lernen, richtig zu essen. In unserer engen Wohnung hatten wir kaum Platz und in der Euphorie junger, übereifriger Eltern quetschten wir direkt neben das Bett unsres Säuglings einen runden Esstisch aus Kiefernholz. Nagelneu.

Wir kauften auch sofort eine Einlegeplatte dazu, um den Tisch später einmal ausziehen zu können. Unser Sohn würde ja mal größer werden und vielleicht auch sein Zimmer. Keine Ahnung, welcher Teufel uns da ritt.
Während unser Säugling die ersten Monate seines Lebens überwiegen verpennte oder die Windelindustrie ankurbelte, stand der Tisch ungenutzt in der Ecke und wir aßen weiterhin im Wohnzimmer mit eingeknicktem Magen vom Wohnzimmertisch. Kann ich übrigens nicht empfehlen, man bleibt trotzdem nicht schlank.

Heute streiche ich an der linken Seite des inzwischen dauerhaft vergrößerten Tisches über ein paar tiefe Dellen. Ein Wutausbruch unsres Ältesten. Er mochte nicht stillsitzen und drosch die Gabel mit zornrotem Gesicht in das nagelneue Holz. Ich litt. Der schöne Tisch. Ich liebe Holz!
Und er war so teuer gewesen für unsre armen Verhältnisse. Ein Drama für mich und ich wusste nicht, ob ich es jemals überwinden würde. Heute denke ich, dass ich das Drama deswegen erfand, weil ich nicht wusste, wie ich meinem winzigen Spross erklären sollte, dass man bei Wutausbrüchen keine Gabel in der Hand halten darf.

Die tiefe Scharte dort drüben erinnert mich bleibend an meinen Jüngsten. Er verweigerte viel zu lange jedes Wort. Mit lautem „hnng!“, meistens von einem Kopfschütteln begleitet, machte er jedem Familienmitglied deutlich klar was er wollte. Nachdem ich mit langem, Folterqualen versprechendem Blick meinen beiden „Großen“ untersagt hatte, ihn weiterhin zu verstehen, begann er, immer an der gleichen Stelle auf dem Tisch zu kratzen. Bis ich auf die Idee kam, ihm ein Set auf seinen Platz zu legen. Lange grübelte ich darüber, wo mein Erziehungsfehler lag. Heute betrachte ich schmunzelnd diese tiefe Mulde, streiche darüber und versinke in Erinnerungen.

Direkt vor mir sind diverse bunte Striche. Sie verblassen langsam. Entstanden sind sie durch die Filzstiftorgien meiner Tochter. In einem unbeobachteten Moment malte sie so intensiv, dass die Filzstiftminen brachen. Sie hatte nur nicht auf Papier gemalt, sondern auf Holz.
Dort drüben die Delle ist von meinem Mann. An einem Silvesterabend entkorkte er eine teure Flasche Sekt, indem er den Korken festhielt und die Flasche losließ. Sie donnerte auf den Tisch, dann auf den Boden, platze und verteilte den schäumenden Inhalt an der Wand dahinter. Die Wand ist inzwischen gestrichen, der Mann auch… diese Delle wird bleiben.

Hunderte von kleinen Rissen, Schrammen, Verfärbungen und Löcherchen sprechen von 16 lebhaften Jahren einer Familie. Ein langer Kratzer, ausgelöst von meiner Nähmaschine, erinnert mich an die Zeiten mit meiner Freundin, in denen wir tagelang Körnerkissen nähten, um sie zu verkaufen.
Der Tisch hat große Feiern erlebt, Lachen, Streit und Weinen… nachdenkliche Stunden mit Kaffee und viel zu viel Zigaretten, Grübeleien über Hausaufgaben, Steuererklärungen… hitzige Debatten des Familienrates… Gespräche über Leben und Sterben.
Der Tisch wurde zu klein und bekam eine zweite Platte, die ein Freund herstellte, weil es keine mehr nachzukaufen gab. Ich hatte keinen richtigen Holzlack und das Holz verfärbte sich völlig anders als der Rest des Tisches.
Hier übte mein erstes Kind den Umgang mit Messer und Gabel. Meine Mutter genoss hier ihr letztes Mahl im Kreis der Familie. Hochzeitspläne wurden an diesem Tisch geschmiedet … auf ihm stand aber auch der Kaffee für den Bestattungsunternehmer. Er erlebte hitzige Diskussionen, lautes Lachen und tränenreichen Kummer. Nicht ein einziges Mal aber herrschte hier Kälte und Ungastlichkeit. Meine Tischplatte kennt festliche Tischdecken und Dekorationen, aber er musste auch barbarische Fressorgien mit den unsinnigsten Kleckereien ertragen. Ein Hundekampf zweier wirklich großer Rüden hat ihn fast in der Mitte geteilt, wütende Fäuste schlugen auf die Tischplatte. Er diente als Höhle für meine Indianerspielenden Kinder. Aber auch als Plattform innigster Zweisamkeit.
Er ertrug heiße Schüsseln und dampfende Töpfe, Spritzer durch Bleigießen und forschende Kinder, die einen Zirkel ausprobierten. Wachsflecken und heißes Fett, klebrige Abdrücke von Kinderhändchen und Tränen, verschütteter Kaffee und verschmierter Kleber bei Weihnachtsbasteleien… all das konnte ich wieder entfernen.
Aber die Erinnerung daran bleibt kleben. Ich brauche gar keine Fotos. Dieser Tisch ist mit der Familie gewachsen. Er hat jeden intensiven Moment des Lebens erlebt und ist stummer Zeuge von allen Ereignissen. Stumm… aber ich verstehe ihn. Er bringt mich zum sentimentalen Lächeln. Denn er ist das Tagebuch meiner Familie.

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Herrlich! Aber ich dachte, es geht um deinen Küchenschrank. Und jetzt auch noch ein Tisch? Hast du all deine Möbel so wunderbar beschrieben? Dann stell uns bitte deine komplette Einrichtung vor!
Wirklich schön. Viele bunte kleine Szenen, die im Kopfkino entstehen. :smiley:

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Hihi, nein… Der Küchenschrank ist viel zu lang. Das sind fast 5000 Worte über 2 Teile. Den Kauf und den Aufbau. Hier habe ich höchstens 2500 Worte (geschätzt) gelesen. Das wäre dann wohl doch zuviel des Guten.

Nur den Küchenschrank und den Esstisch. Aber - liebe Anachronica - eben erst ist mir aufgefallen, dass mein Titel deinem Titel-Stil geklaut sein könnte. Ich schwöre, dieser Titel steht so seit ca. 8 Jahren in meinem kleinen Familienbuch. Jetzt wage ich zum ersten Mal, den Text anderen Menschen als meiner Familie zu zeigen, der ich boshaft unterstelle, dass ihr der Text nur gefällt, weil sie mich lieb hat.
Vielleicht sollten wir einen Möbel-Thread eröffnen :wink:

Danke für deine Worte. Ich freue mich sehr darüber!

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Nein, nein. Alles gut. Wenn man im ähnlichen Stil denkt und schreibt, ist das irgendwie unvermeidlich.

Philomobilis oder so? :nerd_face: Es ist spät, ich werde albern :rofl:

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Sehr schön!
Anhand eines Möbelstücks eine ganze Familiengeschichte zu erzählen ist eine originelle Idee. Gut und gefühlvoll umgesetzt.
Mit gefallen die vielen detailliert geschilderten Anekdoten, man merkt, dass das nicht erfunden, sondern aufgeschrieben wurde.

gui

Danke schön, gui! Freut mich, dass es dir gefällt.
Tatsächlich hat einer meiner Söhne nach dem Lesen dieses Textes verkündet, dass ER diesen Tisch erben wolle. Hand ab bei jedem, der das verhindern will. Seitdem hüte ich den Tisch noch mehr.

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