Der Anfang meiner Kapitel (show-don´t-tell, Worldbuilding und lore)

Liebe Schreiberlinge,

wie einige bereits mitbekommen haben, schreibe ich gerade meinen „Mage-Cycle.“ Ich stehe gerade vor folgendem Problem:

Meine Prota erzählt die Geschichte, jemanden. Das passiert in der Gegenwart 2050 (personaler Erzähler). Vor jedem Kapitel habe ich so einen Abschnitt. Dies möchte ich nutzen, um Fragen aufzuwerfen und um etwas die Welt, wie sie in der Gegenwart ist, zu zeigen. Diese „Einschübe“ sind maximal eine bis zwei Seiten lang.

Dann erzählt sie ihre Geschichte (Ich-Perspektive); wo kommt sie her, was macht sie, etc. etc. das startet 2047.

Jetzt ist es aber so, dass ich unheimlich viel „lore“ habe, dass ich reinbekommen muss, weil der Leser sonst nur noch mit Fragezeichen auf der Stirn rumläuft. Da ist zum einen das Setting: die Welt hat sich ab 2020 dramatisch verschlechtert. Da gibt es gravierende ökonomische und ökologische Umwälzungen - also eine Dystopie. On top kommt dann noch die Magie zurück in die Welt.

Meine Überlegung, um hier keine Info-Dump-Blöcke und zuviel „tell“ zu fabriziere, ist folgende:

  • ich bleibe dabei, etwas von dem Worldbuilding im Hier-und-Jetzt zu zeigen.
  • zusätzlich packe ich aber, bevor die Prota mit ihrer eigentlichen Geschichte beginnt, einen kleinen Absatz mit Informationen, die im folgenden relevant werden. z.B.: um ein Verstädnis über IT/EDV im Jahre 2047 zu bekommen, muss der Leser wissen, was diese dreißig Jahre passiert ist.

Und hier dann aber die große Alarmglocke: dann „telled“ die Prota das ja. Sie erlebt es nicht, kann sie ja auch nicht, weil sie da noch nicht mal auf der Welt war. Ich habe wild durch diverse ältere Bücher geblättert (Enders Game, Dune, Asimov, Niven/Pournelle - für die Klassiker), als auch durch neuere (Broken Earth, Inheritence, Name of the Wind, Song of Ice and Fire, etc.). Die machen das ja auch!

Ich bin vollends verwirrt, aber meine Frage ist eigentlich klar: ist es ok, in einem Kapitel mit, sagen wir mal, zwanzig Seiten, einen Absatz von einer halben Seite zu bringen, wo die Prota die Welt etwas erklärt?

Ich persönlich finde: ja. Diese Show-Don’t Tell-Technik ist eine Empfehlung der modernen Erzählkunst. In alten Romanen (z. B. vor 1900) gab es diese Empfehlung/Regel gar nicht. Deshalb sind die Bücher aus dieser Zeit nicht schlechter als die heutigen. Die Stilmittel haben sich geändert. Dennoch muss man sich nicht strikt daran halten. Wie bei allen Dingen meine ich, eine gute Mischung ist die beste Empfehlung. Eine halbe Seite kann beinahe gar nicht verkehrt sein.

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Nun, gerade die Sci-Fi-Romane von früher haben alle mit „Info-Dump“ begonnen. Immer erst ein paar Seiten, wo die Welt oder die Welten erklärt wurden. Auch unzählige Fantasy-Romane beginnen so.
Klar ist es cooler, wenn die Welt tröpfchenweise erklärt wird. Das ist dann, wie war das Wort?, immersiv? Oder die Bücher werden dicke Schinken, weil man sich zu jeder Welterklärung die Geschichte dazu auch noch ausdenken muss?

However, hab gerade mal The Hundred Thousand Kingdoms durchgeblättert. Die macht das im Fließtext. Eiskalt. Scheint in Ordnung zu sein? Immerhin hat die Jemisin die letzten Jahre so ziemlich alles abgeräumt, was es zu abräumen gab.

Während ich hier schreibe nochmal weitergeblättert. Die treibt das auf die Spitze! Drei Zeilen über die Welt, dann fünf Zeilen über eine spezielle Kultur und dann geht es weiter mit dem Plot.

Um deine Frage kurz zu beantworten: Ich bin kein Freund von diesen vorangestellten Erklärungen; dabei bekomme ich immer den Eindruck, dass der Autor nicht in der Lage war, all das in seine Erzählung einzubetten.
Aber das ist Geschmackssache.

Längere Version:
Es kann toll funktionieren oder sich absolut nervig lesen, es kommt hier absolut drauf an, wie es präsentiert wird, und wie souverän du das als Autor alles managen kannst, vor allem, weil das ja nicht die einzigen Erklärungen bleiben sollen.

Hab ichs richtig verstanden:
Die laufende Story wird einmal aus Sicht deiner Prota erzählt, personale Erzählweise.
Dazu erzählt sie (wechselweise?) in Ich-Perspektive die Geschichte ihrer Vergangenheit,
dazu soll an jeden Kapitelanfang ein Einschub von ein bis zwei Seiten Länge, um die gegenwärtige Welt zu zeigen und Fragen aufzuwerfen,
und schlussendlich möchtest du einen zusätzlichen kleinen Absatz mit Infos irgendwo zwischen Gegenwart und Vergangenheit deiner Prota packen.

Puh. :wink:

Ich will nicht behaupten, dass es so nicht funktionieren kann, aber ganz ehrlich, das alles zu einem organischen und stimmigen Ganzen zusammenzubekommen, was sich an jeder Stelle unterhaltsam liest, ich wüsste so aus dem Stand kein Werk, das auf diese Weise aufgezogen ist.

Wenn ein Autor das so oder so ähnlich macht und damit Erfolg hat, ist das leider absolut keine Garantie, dass es bei einem selbst genauso gut funktioniert und genauso gut ankommt.

Am besten, du gibst uns eine Leseprobe, dann kann man das besser beurteilen.

Da fällt mir sofort „Das Herz auf dem rechten Fleck“ von Berte Bratt ein. Im ersten Kapitel stellt die Ich-Erzählerin sich vor, Zeitform Präsens, und teilt dem Leser mit, dass sie nun die Geschichte von dem glücklichen Sommer aufschreibt, in dem sie zwanzig wurde, und wie es dazu kam. Dieses Kapitel ist knapp 8 Seiten lang. Ab Kapitel 2 wird aus der Ich-Perspektive in der Zeitform Präteritum erzählt. Da kommen dann auch viele Dialoge, dadurch erlebt der Leser diese Geschichte direkt mit der Ich-Erzählerin mit. Ab und zu meldet sich die Erzählstimme zu Wort mit einem Satz wie „Erst sehr viel später begriff ich, wie es eigentlich war.“

Für mich hat das gut funktioniert. Ich mochte das Buch als Jugendliche, und ich mag es jetzt, Jahrzehnte später, irgendwie immer noch.

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Hallo FlorianSo,

manchmal muss man etwas erklären. Wenn es durch Handlung nicht geht, dann halt durch einen Infodump. Man kann ja trotzdem versuchen, den lesenswert hinzukriegen.

Scheint eine Urangst von Autoren zu sein: wenn ich nicht alles, was ich zu meiner Welt im Kopf habe, dem Leser vermittle, kapiert er die Story nicht. Was ich bezweifle. Beispiel: IT im Jahr 2047. Wenn es nicht absolut notwendig ist, dass für das Verständnis Deiner Story der Leser in der Lage sein muss, einen modernen Quantencomputer mit KI-basiertem Betriebssystem samt VR-Interface nachzubauen, musst Du da nichts erklären. Der Leser wird ohnehin annehmen, dass die technische Entwicklung die letzten 30 Jahre nicht stehen geblieben ist. Hier braucht es keinen Dump, das kann man in die Handlung einflechten. Wichtig ist nicht, wie’s künftig funktioniert, sondern wie es sich auswirkt.
Was auch gilt, falls die Entwicklung völlig anders ist (wie etwa im von Dir angesprochenen Dune, dort übernehmen menschliche Mentaten die Rolle der Rechner).

Jedenfalls, wie eingangs gesagt: Wenn es durch Show nicht geht, muss Tell reichen. Den Apfel kann man ja trotzdem treffen.

Gruß,
misc

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Herzlichen Dank für die Antwort. Es ist wohl am besten, ich zeige das in einem Kapitel. Macht es Sinn das hier im Verlauf zu posten, oder eher einen neuen, eigenen Thread?
Bzgl. Erfolg von Autoren: klar. Die „alten“ Beispiele haben in ihrer Zeit super funktioniert. Heutzutage wollen die Leser das nicht mehr. Und die Jemisin ist einfach die beste SciFi/Fantasy-Autorin unserer Zeit, also… :wink:

werde ich lesen! Danke!

Ich wäre nicht so sicher, dass es wirklich die Leser sind, die „Tell“ nicht wollen. Vielleicht sind es doch eher die Kritiker, Autoren, Schreibratgeber?

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Ich muss gestehen, dass ich zu den Lesern gehöre, die eindeutig ‚show‘ bevorzugen. Nicht ununterbrochen, aber wenn im Buch immer wieder ellenlang ‚getellt‘ wird, was der/die Prota sieht und denkt beginnt es für mich langweilig zu werden. Wenn dies gar Seitenlang geschieht, wandert das Buch unfertig gelesen, ganz hinten auf den Stapel unter die Rubrik ‚Papiersammlung‘.

Ist das, was er gerade sieht, nicht „show“?

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Nein! Es geht dabei nicht darum, wer gerade etwas sieht oder auch nicht, sondern wie es dem Leser präsentiert wird.
‚Show‘ ist, wenn nicht erzählt oder berichtet wird, was jemand gerade sieht, tut und treibt, sondern wenn man es aus Sicht einer Figur quasi miterlebt.

Auguste bewunderte unverhohlen das Sixpack ihres Begleiters, der sein ausgeleiertes Sweatshirt ausgezogen hatte und den Kopf unter den Strahl des Brunnens hielt. = Tell.

Hey, er sieht wirklich zum Anbeißen aus, dachte Auguste. Wer hätte gedacht, was da für tolle Muskeln drunterstecken? Wir sollten öfters im Sommer wandern gehen, keine Frage, und ich muss ihn irgendwie davon überzeugen, dass er nicht immer nur solche Schlabberklamotten trägt. = Show

Und keine Panik, ohne ‚Tell‘ geht es nicht, auch nicht in der allermodernsten Literatur.
Im Optimalfall hält es sich die Waage; dazu muss man als Autor halt einen genauen und ständigen Blick drauf haben (oder auch, man schaut beim Überarbeiten), dass nicht eins von beiden merklich überwiegt.
Wenn letzteres droht, kann man lange Tell-Szenen sehr gut mit einer Show-Einlage auflockern - und umgekehrt.

Dass man dieses Wechselspiel harmonisch, spannend und unterhaltsam hinbekommt und der Leser gleichzeitig immer genau soweit informiert ist, wie es zum augenblicklichen Zeitpunkt nötig ist, gehört zu den Künsten unseres Handwerks.

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Mach am besten einen eigenen Thread im Schreibzirkel auf, nicht dass es hier untergeht.

Auch darüber könnte man sich streiten :wink:

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@Yoro
Das ist jetzt die dritte Definition von „show, don’t tell“, die ich kennenlerne.
Vielleicht ist das so ähnlich wie Kanasta-Regeln - jeder hat andere. :laughing:

Nach deiner Definition finde ich „show, don’t tell“ gar nicht mal schlecht.
Ich habs ja immer gesagt: Ich möchte in die Gedanken und Gefühle der Figuren hineingenommen werden, nicht in einer Außensicht geballte Fäuste und Stirnrunzeln beschrieben bekommen.

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wow, jetzt bin ich platt. Da gibts unterschiedliche Definitionen von? Erzähl doch bitte mal, wo man die findet und was sie besagen, ich höre das echt zum ersten Mal.

Ja, genau das ist es.
Aber da man das nicht die gesamte Story lang durchziehen kann, muss man halt abwägen, was wichtig ist. Das werden dann die Show - Szenen, alles andere ist mit ‚Tell‘ gut versorgt.
Wenns dich interessiert, hier ist ein Blogbeitrag dazu: Show don't tell verstehen - Die Buchnachteule

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Ich kann keine Quellen benennen. Vieles habe ich mir sicherlich hier aus Forenbeiträgen zusammengereimt. Eine echte „Definition“ habe ich nie gelesen.

„Definition“ Nr. 1 (diesen Schreibstil kann ich nicht leiden): Jedes Adjektiv vermeiden, das eine Gefühlsäußerung nennt. Man ersetzt „er wurde ärgerlich“ durch „er ballte die Fäuste und runzelte die Stirn“.
Nr. 2 (finde ich absolut gut und sinnvoll): Die Charaktereigenschaften der Protagonisten sollen sich in der Handlung zeigen. Also nicht schreiben „sie war schüchtern“ [und auch nicht nach Nr.1 jedes „schüchtern“ durch „sie schlug die Augen nieder“ austauschen], sondern die Schüchternheit in der Handlung deutlich machen und den Leser in den inneren Konflikt hineinnehmen. Oder statt dass der Protagonist fünfmal erzählt „mein Vater ist so streng“, ihn lieber mal einen Konflikt mit dem Vater durchleben lassen.
Nr. 3 (deine Erklärung): Die Handlung aus Sicht der Figur quasi miterleben.

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Ah, alles klar.
Deine Nr. 2 ist im Grunde das, was ich auch meine. Nicht beschreiben sondern zeigen. Indem man z.B. die Schüchternheit anhand einer Handlung zeigt, ist man im ‚show‘ - Modus. Auf diese Weise erlebt man die Handlung auch aus Sicht der betroffenen Figur.

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Ich hätte meine Nr. 2 eher bei „was schreibe ich“ eingeordnet und deine Erklärung bei „wie schreibe / beschreibe ich es“.

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Na, was die schreibt ist halt schon saugut. Kenne nichts, wirklich nichts, was sich damit im Moment vergleichen lässt. Broken Earth hat nicht umsonst drei Hugos hintereinander bekommen.
Alternativen? Ich habe das Gefühl (im positiven Sinne), dass merklich mehr Frauen interessante SciFi oder Fantasy schreiben, als Männer. So. Noch eine Diskussion eröffnet :slight_smile:

Aber nochmal: wie soll die Prota etwas miterleben, dass vor ihrer Zeit passiert ist? Oder am anderen Ende der Welt? Manchmal muss man ja einfach tell machen.