Dein strahlendes Licht
Auf meinem Weg lese ich Steine auf. Wie jedes Jahr mache ich mich auf nach Kentucky. Ich gehe den Pfad zu deinem kleinen Grabkreuz an der alten windschiefen Hütte, wo noch der klapprige Schaukelstuhl steht. Manche sind mit Kalk und blinkenden Quarz marmoriert, andere sind monoton beige bis braun. Überbleibsel einer vergessenen Zeit. Der Weg schlängelt sich durch den Wald, durch das kleine Tal, hinüber zur Klippe.
Mutter ist ergraut und Vater lange tot. Sie haben es nicht geschafft, nach dem dich der Fels getroffen hat. Im Steinbruch. An dem Tag, als unsere Phantasie zu weit ging.
Mit jedem Stein, den ich in meinen Beutel lege, denke ich an dich.
Das Einzige, was ich dir bringen kann, ist Phantasie. Denn da verkörpert sich deine Brillanz und jeder wusste es. Keiner konnte es mit dir aufnehmen. Mit jedem Stein, den ich sammle, tue ich dasselbe. ich umschließe ihn, fühle ihn.
Ich strenge mich an zu denken und meinen Verstand zu öffnen. Ich injiziere meine guten Gedanken und zwänge so viel Phantasie hinein wie möglich. Ich wandele ihn um zu einem der wilden Äpfel, die unten am Bach am alten Baum hingen, der bis zum anderen Ufer reichte. Dann wird er die leuchtende Perle, die du aus dem Harz der Koniferen geformt hattest und von der du sagtest, sie sammle das Licht des Sommers. Ich denke an Märchen aus den alten Büchern - all das lasse ich hineinfließen.
Zuhause habe ich dich nie erwähnt. Sie würden es nicht verstehen. Deshalb ist es das letzte Mal, dass ich diese Reise antrete. Sie würden mir Vorwürfe machen. Die Geschichten, die ich meinen Söhnen erzähle, handeln von denselben Wesen, die wir auf unserm mächtigen Schiff - in unserer Welt - gegenübertraten. Dein Schopf wehte im salzigen Wind, wo du am Bug des Schiffes Kommandos schriest. Deine Hände packten den Wind. Ein wildes Trillern, etwas in deinen Augen. Martialisch, bestimmt.
Gelbe Kriegsbemalung durch den Löwenzahn auf das Gesicht geschmiert und rote Striche aus Tonerde, grüne vom feuchten Moos der Felsen im Wald.
All das, was ich denke und meinen Kindern sage ist nur ein Skizzieren. Ein Umreißen von dem, was dein Verstand erschuf und aufrechterhielt.
Wenn ich die trägen Dampfer sehe, die sich durch das Meer schleppen - an der Küste Dovers, wo ich jetzt lebe. Du hättest Gebrauch gemacht von Myriaden an Farbkombinationen und sie mit ausgefallen Mustern bemalt. Du hättest dir deine Beschaffenheit der Dinge selbst ausgesucht und den Mast gespannt, den Auftrieb erhöht, sie besetzt mit deiner Mannschaft und sie in den Kampf geschickt.
Wir waren so im Spiel versunken, dass wir die Realität nicht mehr wahrnahmen und auch abends, in der Stube, bei Mutters Suppe. Wir rutschten noch unruhig auf den Holzschemeln herum. Uns war, als fühlten wir noch die Gischt, als schaukle und zittere der ganze Boden unter den rauen Wogen.
Und nachts – du wusstest es nicht – musste ich mich zwingen, wieder in der Realität anzukommen. Ich presste die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und manchmal verkniff ich mir einen Schrei. Morgens musste ich die Fantasie mit aller Kraft verdrängen bis wir in der Stube unterrichtet wurden. Von Vater. Wenn er mich ablenkte mit Formeln, Vokabeln und Geographie. So hast du dazu beigetragen, dass ich lebte.
Wenn es geschafft war, kauten wir auf Ähren herum und lagen in der Sonne. Hinübergetragen in eine Scheinwelt, in der alles möglich war.
Ein Gedanke reichte.
Mutter musste lächeln.
Wilde Erdbeeren, Kirschbäume, Dahlien, Hütten unter den Obstbäumen. Der Mond funkelte durch das zusammengeflickte Blätterdach und uns pikste das Stroh, auf dem wir schliefen. Eine an sich einsame Welt und doch so wild und frei. So voller Mut und Geborgenheit und auch Einsamkeit in der Abgeschiedenheit rund um die Farm. Du strecktest die Arme aus und schon folgten wir dir in ein neues Abenteuer.
Während ich den Kies unter meinen Füßen spüre, bemerke ich den Lavendel am Wegrand. Wie Mutter ihn damals in kleinen Stoffsäckchen sammelte, sie ihn trocknete und an den Feiertagen warf sie eine Hand voll in den Kamin und das ganze Haus war erfüllt von einem durchdringenden Duft. Geborgenheit und Ruhe. Ihre würzige Kräutersammlung und die blinkenden Knöpfe an ihren Röcken. Es war alles da. Vaters Pfeife und sein Geruch nach Minze von seiner starken Medizin. Seine dunkle, tröstende Stimme. All das war wie weggefegt, in einem Moment.
Eine Meise hüpft von Ast zu Ast, der Sommer trocknet die Blätter, kraftlos unter der Hitze. Ameisen und scheue Eidechsen, kalkige Steine. Das sehe ich bis am Steinbruch vorbeikomme. Blumensamen in der Luft wie ein Vorhang. Mit der Hand wehe ich sie zur Seite.
Es ist keiner da.
Die Fahrrinnen des alten Fuhrwagens sind immer noch zu sehen und dann schält sich die alte Hütte aus dem Panorama heraus. Hinter der Farm steht dein Grabkreuz und daneben eine beachtliche Ansammlung von Steinen.
Sie häufen sich je näher sie and das alte Holz des Kreuzes kommen. Oben hängt ein Kranz aus vertrockneten Wildblumen. Ich wundere mich, dass er nicht weggeweht ist. Der Regen hat ihm nichts anhaben können.
Meine Gedanken gehen zurück an den Tag, an dem du mir die Perle geschenkt hattest. Du hattest an den Stämmen der Koniferen gesessen und gewartet, bis das Harz frisch hervorquoll und ihn immer wieder in der Sonne trocknen lassen. Schicht für Schicht hast du sie modelliert. Das warme Orange leuchtete beruhigend im Licht. Du hattest ein Band eingefädelt und mir gesagt, dass – wenn der Winter kommt – ich einfach nur hineinsehen solle und dann umgäbe mich das Licht und die Wärme und die ganze Farbpalette des Sommers.
Ich fühle mich nicht gut.
Vorsichtig gehe ich über die knarzende Veranda. So, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen. Der Schaukelstuhl von Großvater ist spröde und verblasst, die Tür hängt lose im Rahmen und quietscht hier und da.
Es werden die letzten Steine sein.
Ich streiche über das Geländer und betrachte den Staub auf meinen Fingern. Ich wische all die Blumensamen beiseite, die eines der Fenster milchig bedecken. Ich setze mich auf den Schaukelstuhl und schaue in den verwilderten Vorgarten. Die Blechdose mit Vaters Abzeichen aus dem Krieg habe ich mit hierher genommen. Ich stelle sie auf den Sims. Die silberne Haarnadel von Mutter habe ich nie verkauft. Sie hatte mich immer auf den blauen Stein darin aufmerksam gemacht. Auch sie lege ich hier ab. Den Beutel mit den Steinen halte ich in meinen Händen und denke an all die Bilder, Gedanken und an alles Kreative und Phantastische. Alles was ich kombinieren konnte, herbeiholen konnte von irgendwoher - was ich geträumt hatte. Fetzen, die ich auf der Straße auffing. Fabelwesen, von denen ich hörte über die Jahre. Alles Dinge, irgendwie nicht greifbar waren und die Grenzen des Alltags verließen. All das habe ich in mir gesammelt um es Jahr für Jahr zu dir zu bringen.
Die Schatulle mit der Perle. Ich spüre, wie sie durch die kleine Kupferdose kullert. Ich habe sie schon lange nicht mehr betrachtet.
Auch sie werde ich hierlassen.
Zuhause warten sie auf mich. Ich habe Verantwortung. Deshalb habe ich mich ein letztes Mal auf den Weg gemacht. Meine Konzentration und meine Kraft - sie war besetzt so lange Zeit. Meine Jungs entwickeln sich prächtig. Sie lernen eifrig. Meine Frau ist treu und sie wird von Tag zu Tag schöner. Sie alle suchen meine Nähe.
Ich glaube, dass du zufrieden bist und du nimmst es mir nicht übel. Du umgibst mich als sähest du mich direkt an. Du hättest gewollt, dass ich verstehe, was ich beginne zu verstehen. Du hättest gewollt, dass ich frei bin.
Sommer für Sommer werde ich in Dover an der Küste mit meiner Familie an die Klippen gehen und hinausschauen auf das Meer. Ich werde das Salz schmecken und hinausfahren mit meinen Söhnen.
Ihnen werde ich Dinge erzählen, bei ihnen sein. Aber es wird nicht weh tun. Ich finde mich zurecht im Alltag, gebe mir Mühe auf der Arbeit. Wilde Blumen, im Sommer, auf den Feldern. Ich pflücke sie und schenke sie meiner Frau und flechte sie in ihr Haar.
Dahlien, und wilde Gräser. Das Lachen meiner Kinder, die behutsame Hand meiner Frau. Wie lieb ich sie habe.
Ich greife den letzten Stein und lege ihn ab - neben die Perle.