Das Weihnachtslied

Eigentlich, sollte man meinen, sei Chaos das absolute Gegenteil göttlicher und menschlicher Ordnung. Gott ebenso wie die Menschheit suchen sich vor Chaos zu schützen – durch Schöpfungen, Gebote, Verordnungen und Gesetze. Und doch, der „Was bist du bloß für ein Chaot“-Seufzer ist keineswegs so bitterernst wie die Angst vor wirklich ungeordneten Zuständen.

Es schwingt ein Hauch Sympathie mit in diesem Ausruf. Neben der Resignation und dem Mitleid glimmt ein Fünkchen Hoffnung, es ließe sich die angesprochene Person retten, irgendwie und doch noch einmal. Auch du kennst bestimmt einen dieser liebenswerten Chaoten, der mitten im selbst verursachten Trümmerregen steht, die Hände schützend über den Kopf gebreitet, mit großen, weiten Rehaugen stumm ein „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“ flehend. Vor allem Kinder wissen genau, wie das geht, und schaffen es immer wieder, Trost-Kekse zu bekommen, statt der Kopfnüsse, die sie eigentlich verdient hätten.

Robert ist ein solcher Chaot. Aber er ist kein Kind mehr, sondern ein ausgereiftes Mannsbild, ein hoch gewachsenes, gutaussehendes, kräftiges; ein Unternehmer, der bis dato zwar große Umsätze, aber insgesamt mehr Schulden als Gewinn erzielt hat.

Aber eine Stimme hat er wie kaum ein Zweiter.

„Was? Was willst Du? Ein Lied über eine Meerjungfrau? Eine Nymphe?“

„Ja. Die Seen Österreichs! Die Melodie könnte ungefähr so wie ‚Sometimes When I’m Dreaming‘ gehen. Agnetha Fältskog. Ex-Abba, du weißt schon!“. Robert setzt sich an meinen Flügel und summt zu einer Melodie, die klingt, als ob ein Mädchen rückwärts läuft, dann innehält und sich überlegt, in welche Richtung es eigentlich wollte. Dann werden die Harmonien plötzlich weit und zeigen nach vorn; Roberts Stimme strahlt. „Der Refrain“, sagt er und wiederholt die Durchgänge, „ladi, lada, la dum-da, schön! So schön und voller Hoffnung! Schaffst du das bis zum Wochenende?“

„Was? Bis zum Wochende??“

„Ich brauch das Lied am Samstagabend. Ein Event in Salzburg, es ist wohltätig, aber es geht auch um einen Auftrag für die nächsten Festspiele. Catering! Fischbuffet! Tausend VIPs! Wenn ich den kriege, bin ich wieder solvent!“ Robert kann von allen Menschen, die ich kenne, die allergrößten, bettelnden, samtbraunen Hundeaugen bekommen. Auf die bin ich schon ein Dutzendmal hereingefallen.

„Bis Samstag? Du spinnst wohl! Es ist Donnerstagabend. Nie und nimmer!“

Robert dreht sich zurück zum Klavier und streichelt die Akkorde wieder hauchleicht über die Tasten. „Es darf nicht der übliche Schmarren sein, nichts Belangloses, das sich mit verstellter Stimme an Dummköpfe richtet. Es muss zeitbezogen und ehrlich sein. Es muss jedem, der zuhört, Hoffnung geben. Nur dann funzt es. Bitte!“

Er dreht sich wieder zu mir. „Wir könnten es doch jetzt gleich machen. Zusammen! Ich helf dir! Bitte! Ich mach es auch wieder gut!“

Mit diesem Ton und diesem Blick kriegt Robert jede Frau herum, weiß ich. „Ich bin kein Mädchen, dem du den Kopf verdrehen kannst; das auf dich hereinfällt und das du sofort wieder stehen lässt, wenn du das gekriegt hast, was du von ihm wolltest“, sag ich. „Solche Lieder gibt’s bei mir nicht, schon gar nicht auf Bestellung!“

„Dann bin ich geliefert“, sagt Robert, sinkt auf dem Klavierstuhl zusammen und bricht in Tränen aus wie ein Kind. Ich weiß, dass auch das nur eine Finte ist, bin aber beeindruckt von der schauspielerischen Leistung und jetzt sicher, dass es bei ihm diesmal wirklich kurz vor knapp steht.

„Solche Lieder gehören sich nicht von einem Mann allein gesungen“, probiere ich es. „Sinatra und Crosby haben doch immer nur angestrengt versucht, Meerjungfrauen an Land zu ziehen, um sie flachzulegen. Du brauchst eine ehrliche Mädchenstimme dabei, sonst wird das nichts.“

Roberts Tränen versiegen sofort. „Eine Mädchenstimme?“ Er zieht das Handy aus der Manteltasche, tippt, ohne groß zu überlegen, und hält es ans Ohr. „Sandy? Grüß dich! Du, es gibt ein Problem!“

Um den Widerstand des Mädchens zu brechen, ihm zuzuhören, braucht er nur zehn Sekunden; um es so weit zu bringen, Samstags mit ihm aufzutreten und heute gegen Mitternacht mit zu mir zu kommen, „um das Lied zu probieren, das wir jetzt gleich schreiben werden“, keine zwei Minuten. Ich kenne das Mädchen. Es ist eine kleine, süße Zahnmedizinstudentin mit einer Engelsstimme. Sie hat sich schon ein paarmal wegen Robert bei mir ausgeweint.

„Also?“

Ich geh auf meine Toilette, und während ich mir danach die Hände wasche, sehe ich das Mädchen schon auf der Bühne stehen, Robert hinter ihr am Flügel sitzend. Ich hör sie gemeinsam singen, dass die Hoffnung in uns immer und überall ganz zuletzt sterben wird.

„Das packen wir in den Refrain, und ihr werdet ihn gemeinsam singen“, sag ich, während ich mich mit trockenen Händen neben Robert ans Klavier setze.

Sandy bekommt feuchte Augen, als Robert den letzten Akkord liegen lässt und ihn pathetisch bis nach ganz oben erweitert . „So ein Kitsch!“, meint sie dann und sucht nach einem Taschentuch, „aber es ist wunderschöner Kitsch!“ Sie hat enge Jeans an, ist strumpfsockig und trägt einen viel zu weiten, dunkelblauen Pullover. „Du bist unsere kleine Meerjungfrau“, balzt Robert und versucht, sie auf seinen Schoß zu ziehen, aber sie entwindet sich ihm.

„Es ist das letzte Mal, dass ich mich von dir einwickeln lasse“, sagt sie und steckt das Taschentuch weg. „Und ich mach es nicht wegen dir, sondern nur wegen des Liedes.“

Das war vor zwei Jahren, und es hat dann doch nicht geklappt. Ob sich die beiden schon auf dem Heimweg oder erst später wieder zerstritten haben, weiß ich nicht; es kam damals zu keiner Aufführung. Robert hat den Catering-Auftrag aber trotzdem an Land gezogen.

Neulich, als ich beim Aufräumen das alte Notenblatt fand, hab ich das Lied wieder gesummt. Ich finde, es passt immer noch in die Zeit.

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