Das "unendliche" Kapitel

Ich mag nicht mehr. Seit Wochen (!!!) schreibe ich an diesem Kapitel, verbessere, ändere, streiche, lösche es komplett und fange von vorne an. Ich habe es extrem gekürzt, weil es gefühlt zu viel Tempo nimmt. Doch nach all der Arbeit fühlt es sich beim Lesen immer noch an, wie Teile, die nicht so recht zusammen passen.
Aber noch mehr weglassen ist keine Option, weil es für die spätere Handlung/ Motivation, Figur wichtig ist.
Liegts an mir? Bin ich inzwischen „betriebsblind“ oder spürt ihr das auch?

Hargem, 6. Juli 2025

Der Geruch von Gegrilltem, Knoblauch und warmem Brot empfing Julia an ihrer Zimmertür. Sie schüttelte sich. Am liebsten wäre sie zurück ins Bett gekrochen.
„Essen ist fertig.“, rief Jan Verhoeven die Treppe hinauf.
„Gleich.“
Nach einem kurzen Trip ins Bad und einer Handvoll Wasser im Gesicht, schlüpfte Julia in ein ausgeleiertes Shirt und griff sich Olives Leine.
„Ich dreh erst noch eine Runde mit Ollie“, rief sie ihren Eltern zu und konzentrierte sich darauf, lebhaft zu klingen.
„Seit du angekommen bist, verkriechst du dich in deinem Zimmer, verschläfst den ganzen Tag, isst kaum was.“
Simone Verhoeven steckte ihren Kopf in den Flur.
„Ich bin eben müde und hab keinen Appetit.“
„Schatz, du musst richtig essen.“
„Wenn ich wieder da bin.“
„So willst du rausgehen?“
Jan Verhoevens Blick blieb an Julias Pyjamahose hängen.
„Papa, wir sind in Hargem. Hier sind schon seit Stunden die Bordsteine hochgeklappt.“
„Wenn dich jemand sieht?“
„Dann sieht er mich halt.“
Julia drückte einen Schmatz auf die Wange ihres Vaters.
„Komm Ollie.“
Mit gespitzten Ohren und freudig wedelnder Rute tippelte Olive eilig die menschenleere Straße hinunter. Wie immer bogen sie in den Weg zum Wäldchen ein. Dichter Schatten der Büsche und Bäume schluckten den kompakten Dackelkörper am Ende der Leine, als führe Julia einen unsichtbaren Geist aus. Die straff gespannte Flexileine in ihrer Hand schnurrte wie eine Gitarrensaite. Dass etwas nicht stimmte, merkte sie erst, als sie fast über den Hund fiel.
„Na los, weiter gehts.“, rief die junge Frau.
Aufmunternd zupfte Julia an der Leine. Doch Olive stemmte die Beinchen fest in den Boden und fixierte einen entfernten Punkt im Unterholz.
Es raschelte.
„Was haben wir da aufgeschreckt? Ein Häschen?“
Julia schaute sich um. Vor ihr gähnte der finstere Wald, hinter ihr schimmerte zaghaft lila Himmel durch die Baumkronen.
Wieder ein Rascheln.
Näher jetzt.
Olives Rute schnellte steif über ihren Rücken. Sie grollte. Das Weiß ihrer Augen und Fangzähne glänzte unheilvoll in der Dunkelheit.
„Hey, was hast du denn?“, flüsterte Julia und kauerte sich neben den Hund.
Zur Bürste aufgestelltes Haar stachelte an Julias Hand wie elektrisch aufgeladener Draht.
„Ist da jemand?“, versuchte sie zu rufen.
Doch der Knoten im Hals dämpfte ihre Stimme. Das Rascheln mauserte sich zu einem trockenen Krachen ganz ihrer Nähe.
Weg hier!
Sie sprang auf, klemmte den Dackel unter ihren Arm und rannte bis nach Haus. Drinnen drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloss, bevor sie den Hund auf den Boden setzte.
Ollie schüttelte die Aufregung aus ihrem Fell und schaute entspannt zu ihr auf.
„Tut mir leid, dass ich dich mit meiner Paranoia angesteckt habe“, murmelte Julia und kraulte die Dackelohren.
Könnte sie nur das enge Gefühl in ihrer Brust ebenso leicht abschütteln wie das Tier.
„Julchen? Bist du das?“
Blaues Fernsehlicht quoll aus dem Spalt der Wohnzimmertür in die Diele.
„Ich geh rauf. Gute Nacht Mama.“, rief Julia hastig, während sie die Treppe hinaufeilte.
Auf dem kleinen Tisch am Fenster wartete ihr Abendessen. Sie lüftete kurz die Haube. Der Geruch von kaltem Fleisch kroch in ihre Nase, den Schlund hinunter und ballte sich in ihrem Magen zu einer schmerzhaften Faust. Angewidert schob sie den Teller zur Seite. Dabei fiel ihr Blick auf Mireilles Booklet.
Sie hatte es nie bis zum Ende gelesen.
„Was meinst du?“, fragte sie Olive, deren Augen an Julias verschmähten Abendbrot klebten.
„Ich glaube, das bringt uns auf andere Gedanken“, fuhr sie fort.
Die Dackelohren fingen zuckend ihre Stimme ein, wenngleich der sehnsüchtige Blick am Teller festgetackert blieb.
„Die Untersuchung der mtDNA ergab keine direkte Übereinstimmung mit etablierten Haplogruppen der globalen Referenzdatenbanken …“
Julia unterbrach sich.
„Nein, so weit waren wir schon …“
Sie blätterte die Seite um.
„Pass auf. Jetzt kommt was Neues: Die Konfiguration weist seltene Substitutionsmuster und eine hohe Sequenzstabilität auf. Das lässt auf eine maternale Abstammungslinie mit jahrtausendelanger Weitergabe in ethnisch abgeschlossenen Strukturen schließen, deren Ursprung im südlichen Nilraum liegen. Eine potenzielle Einbindung in die historischen Bevölkerungsstrukturen des Alten Reiches, insbesondere im Zeitraum der 4. Dynastie erscheint plausibel.“
Sie stockte. Die letzten Worte füllten ihren Mund, sperrig und spröde, als kaute sie auf splitternden Knochen.
„Was?!“, stammelte Julia.
Ihre Augen rasten über den Text. Hitze wuchs in ihrer Kehle heran, raubte ihr den Atem, wie ein Feuer, das der Luft den Sauerstoff nimmt.
„Nein.“
Sie schluckte am Speichel, der sich zäh in ihrem Mund sammelte. Mit einem Knall schlug sie das Booklet zu und warf es in die Ecke.
„NEIN!“
Von Julias Aufschrei aus ihrer Fresshypnose gerissen, verzog sich Olive unter den Tisch.
„Das kann nicht sein! Ich wurde aus Rumänien adoptiert“, fuhr sie laut fort.
Ihr Blick fiel auf das Heft, dessen eng beschriebene Seiten, Kurven und Diagramme eine andere Wahrheit erzählten. Es hielt sie nicht länger auf dem Stuhl. Mit weichen Knien wankte sie zum Fenster, presste ihre Stirn gegen die abendkühle Scheibe, um durch zu atmen.
„Das ist doch Blödsinn. So ein Quatsch!“
Julia riss sich los.
„Morgen nehmen wir uns meine Adoptionsunterlagen vor und dann klärt sich dieser ganze Spuk“, beruhigte sie sich selbst und den aufgeschreckten Hund.
Energisch schloss sie die Vorhänge und setzte sich auf ihr Bett, gefolgt von Olive, die sich hervor traute und am Fußende mit einem zufriedenen Seufzer zusammenrollte.
Julia verkroch sich unter ihrer Decke, wälzte sich mit zugekniffenen Augen ruhelos umher. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Ihre Gedanken drehten sich um die Kindheit in Rumänien, die für sie nicht mehr war, als ein blinder schweigender Fleck, als hätte sie vor ihrer Ankunft in diesem Haus nicht existiert. Gefangen im Gedankenkarussell, kreisten Fakten und Befürchtungen mit zunehmender Geschwindigkeit um sich selbst, bis die Realität an ihren Rändern zur Unkenntlichkeit verschwamm. Übermüdet streckte Julia die Beine aus. Ihre Füße berührten Olives kleinen Körper. Geerdet von der Wärme und dem wohligen Schnarchen der Hündin fand sie endlich Ruhe.
Es war noch nicht acht Uhr, als die Stimmen ihrer Eltern vom Zuschlagen der Autotüren abgeschnitten und mit Motorengebrumm davon fuhren.
Julia sprang aus dem Bett, um ihren gestrigen Entschluss in die Tat umzusetzen. In der Küche warteten duftender Kaffee, bäckerwarme Brötchen und ein Zettel ihrer Eltern.
„Sind zum Mittag zurück“, las sie laut, während sie über das flaue Gefühl in ihrem Magen nachdachte und beschloss, ihren Hunger zu ignorieren.
Im Arbeitszimmer ihrer Eltern herrschten die üblichen Gegensätze: Papas chaotischer Elefantenschreibtisch versus Mamas penibel organisierten Sekretär.
Olive, die ihr wie ein Schatten überallhin folgte, kratzte ungeduldig an der Tür zum Garten.
Nachdem sie den Hund hinaus gelassen hatte, schaute sie sich um. Früher gab es eine Box aus festem Karton. Ihr Name stand auf dem Deckel. Die bedruckten Blätter darin hatten die kleine Julia nie interessiert; nur das Foto mit dem fremdartig gekleideten Mädchen. Doch seit Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht, nicht an das Bild, nicht an die zahllosen Seiten Papier und auch nicht an die braune Box.
Also, wo mochte sie sein?
Julias Blick übersprang den Elefantentisch, suchte flüchtig die deckenhohen Bücherregale ab und blieb am Aktenschrank hängen, vielmehr am Karton obenauf.
Bitte mach, dass sie es ist, sandte Julia ein stummes Gebet zum Himmel. Auf Zehenspitzen ertastete sie überkopf die Box.
Ja!
Sie trug den Karton zum Lesesessel ihres Vaters, dessen harte Kante beim Sitzen die Rückseiten ihrer Schenkel schnitt. Denn sie fühlte nichts, außer ihrem pochenden Herzen. Beide Füße fest auf dem Boden und die Box auf dem Schoß, spürte sie mit geschlossenen Augen dem Gewicht ihrer Vergangenheit nach. Sobald sie sich gesammelt hatte, glitten ihre Fingerspitzen unter den Deckelrand, um die Schachtel zu öffnen.
Der Geruch von vertrocknetem Papier und dem Staub der Jahre schlug ihr entgegen.
Sie blätterte und las Stunde um Stunde: die Korrespondenz zwischen den Behörden, Konsulaten, Briefe vom Anwalt, die Flut von Anträgen, den Vertrag mit der Vermittlungsagentur, Übersetzungen zum Teil beglaubigt, Krankenhausberichte und Diagnosen, Geburtenfeststellung, ein Schriftstück vom Kinderheim in Suceava, etliche Berichte von einer Außenstelle …
„Was tust du da?“
Die Stimme ihrer Mutter schreckte Julia auf. Sie hatte die Rückkehr ihrer Eltern nicht bemerkt.
„Ich lese.“
Simone Verhoeven musterte die auf dem Boden verteilten Blätter. Sie hob eines auf. Ihre Augen weiteten sich.
„Deine Adoption war nie ein Geheimnis. Du musst nicht warten, bis die Luft rein ist und hinter unseren Rücken in den Papieren schnüffeln“, sagte sie und reichte es an ihren Mann weiter.
„Ich hab nicht geschnüffelt“, gab Julia zurück und erhob sich.
„Natürlich nicht“, sagte ihr Vater.
Er legte eine Hand auf den Arm seiner Frau und schenkte ihr einen bedeutsamen Blick.
„Wonach suchst du überhaupt? Wir dachten immer, du wärst glücklich bei uns, wir wären dir gute Eltern.“
Simone Verhoevens Stimme klang belegt.
„Es geht nicht um euch. Hier geht es nur um mich.“
„Alles, was wir über deine Vergangenheit wissen, haben wir dir erzählt. Mehr gibt es nicht. Diese Unterlagen dokumentieren nur Verwaltungsvorgänge. Was glaubst du, darin zu finden?“
„Ich fand so einiges und ich habe Fragen dazu.“
Die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst, fixierte Julias Mutter einen Punkt hinter dem Rücken ihrer Tochter. Schweigend und mit verschränkten Armen schüttelte sie ihren Kopf.
„In Ordnung. Was möchtest du wissen?“, sprang Jan Verhoeven ein.
„Warum habt ihr mittendrin die Agentur gewechselt? Warum steht in den Papieren, dass ihr mich aus einem Heim in Suceava adoptiert habt, wenn doch alle Berichte aus einem anderen Heim stammen? Wer ist Ana Ionescu? Und wofür habt ihr sie bezahlt?“
„Das ist die Höhe!“, explodierte Simone Verhoeven.
„Siehst du nicht, was wir alles für dich getan haben? Wir gaben dir ein Zuhause, Liebe, Sicherheit – jetzt stellst du uns hin, als wären wir Verbrecher. Findest du das fair?“
Empört befreite sie sich aus dem Griff ihres Mannes.
„Heraus damit! Du musst dir etwas dabei denken. Also sag schon, was wirfst du uns vor?!“, fuhr sie fort und fegte in einer raschen Bewegung die Blätter vom Sessel, wie ein Herbstwind in raschelndes Laub.
„Du hast gesagt, es gäbe keine Geheimnisse, ich könnte alles fragen.“
Julia zeigte auf die Dokumente am Boden.
„Und das ist deine Antwort?“
„Simone, bitte!“, ging Verhoeven dazwischen.
„Denkst du, wir hätten dir was angetan?“
„Ich weiß es nicht!“, schrie Julia.
Der Satz rollte durch den Raum wie eine tosende Lawine den Berg hinunter. Die darauf folgende Stille begrub sie, wie dichter fester Schnee.
Betroffen wich die Mutter zurück.
„In Ordnung, in Ordnung. Beruhigen wir uns …“
Jan Verhoeven fasste sich zuerst. Sanft schob er seine Frau zur Tür.
„Geh nur, ich rede mit ihr.“
Die Tür schloss sich leise.
„Oh mein Gott! Was habe ich da gesagt?“
Julia schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Das wollte ich nicht.“
„Ich weiß. Ist schon gut“, sagte Verhoeven sanft.
„Deine Mutter liebt dich über alles. Sie wird sich beruhigen“, fuhr er fort.
Vorsichtig umging er die Blätter auf dem Boden, als könnte das Papier in seine Füße beißen.
„Komm her.“
Verhoeven klopfte mit der Hand auf den Sessel, schob umständlich den Hocker heran und nahm darauf Platz.
„Erklär es mir. Wonach hast du gesucht?“
Auf ihrem Weg zum Sessel griff sich Julia das Booklet. Sie schlug die Seite auf und reichte es ihrem Vater.
„Das ist … erstaunlich. Sehr interessant“, sagte er schließlich und rieb seine Augen, als wäre er vom Lesen des kurzen Textes ermüdet.
„Stamme ich wirklich aus Rumänien?“, fragte sie atemlos.
„Warum zweifelst du daran?“
„Weil meine DNA eine Herkunft aus dem südlichen Nilraum nahe legt.“
„Genau, nahe legt.“
Er nahm ihre Hände.
„Schatz, das ist keine exakte Wissenschaft. Belastbare Ergebnisse entstehen nur durch die Anzahl vergleichbarer Proben und genau das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Migration findet seit Jahrtausenden statt. Hier steht nichts weiter, als dass deine Urahnin von dort stammt. Das ist fast 5000 Jahre her! Es wird sogar darauf hingewiesen. In den Ergebnissen zur autosomalen DNA. Warte …“
Er ließ ihre Hände los, um in dem Booklet zu blättern.
„Hier!“, rief Verhoeven.
„… zeigen Übereinstimmungen mit ethnischen Kleingruppen des nördlichen Levante-Gürtels, transkaukasischen Bergzonen und Regionen südlich des Kaspischen Meeres“, las er laut.
Er sprang auf, um den Globus von seinem Schreibtisch zu holen.
„Siehst du? Das ist eine plausible Route von Ägypten hierher.“
„Ja Papa, aber das erklärt nicht, warum meine DNA überhaupt keinen Bezug zu Rumänien hat.“
Bedächtig stellte er den Globus an seinen Platz.
„Stimmt“, gab Verhoeven zu und kehrte zu ihr zurück.
„Aber dafür habe ich keine Erklärung. Und in diesen Papieren-“, er zeigte auf die herumliegenden Blätter,
„wirst du sie auch nicht finden.“
„Dafür fand ich etwas anderes … Ungereimtheiten.“
„Du hast recht, auch wenn es anders ist, als du denkst.“
Er seufzte leise.
„Wir haben dich nicht über eine offizielle Agentur adoptiert. Es gab einen … einen Umweg. Das Ganze wurde nachträglich durch viel Geld und Beziehungen … legitimiert.“
„Ihr habt euch ein Kind gekauft?“
Der Satz hallte von den Wänden, als befänden sie sich in einem leeren Raum.
Sie sprang auf.
Unfähig zu antworten oder seiner Tochter in die Augen zu sehen, senkte Verhoeven den Blick.
„Ganz so war es nicht“, wich er aus.
Doch sie war bereits auf dem Weg zur Tür.
„Julia, warte!“
Mit dem Rücken zu ihm blieb sie stehen.
„Wenn du jetzt gehst, kennst du nur die halbe Wahrheit und alles, was du dir zum Rest dazu denkst, wäre tausendmal schlimmer als die Realität.“
Langsam wandte sie sich um.
„Bitte höre mich zu Ende an.“
„Vom Antrag bis zur Adoption vergehen oft Jahre. Zuerst lief alles ganz legal. Doch dann wurde ich krank. Ich dachte, mir bliebe nicht mehr genug Zeit, oder womöglich wäre der Krebs ein Grund, uns kein Kind zu geben.“
Er stand auf und tat einen Schritt auf sie zu.
„Ich wollte Vater sein, deiner Mutter Erinnerungen hinterlassen und jemandem mit dem sie sie teilen kann …verstehst du das?“
Sie antwortete nicht, doch ihre fest verschränkten Arme lockerten sich.
„Eine Frau, diese Ana Ionescu, sprach uns damals bei einem Vor Ort Termin in Suceava an. Irgendwoher schien sie zu wissen, was los war. Sie sagte, sie könnte uns helfen, die Sache beschleunigen.“
„Wie? Hat sie auf die Schnelle einer mittellosen Familie die Tochter abgekauft, mit eurem Geld gegen eine kleine Provision? Oder wurde davon ein Entführer engagiert?“
Abwehrend streckte er die Hände vor und schüttelte den Kopf.
„Um Himmels willen! Nein! Du warst schon dort. Bei ihr. Sie leitete eine Außenstelle des Heimes. Für Kinder mit … mit Problemen. Sie sagte, du wärst in Gefahr. Du müsstest fort, weit weg, am besten außer Landes.“
„Habt ihr euch nie gefragt, warum sie mich nicht in den Schutz der Polizei gab?“, rief Julia und winkte ab.
„Ach was rede ich da! Sicher nicht! Denn auf die Art hattet ihr die perfekte Entschuldigung! Ihr habt das alles nur für mich getan, zu meinem Schutz!“, antwortete sie sich selbst.
„Vielleicht hast du recht. Und wenn du jemand die Schuld geben willst, dann gib sie mir. Ich war die treibende Kraft. Ich habe mich auf den Handel mit dieser Frau eingelassen und womöglich waren meine Gründe nicht so uneigennützig, wie ich immer dachte. Aber wäre ich heute in derselben Situation und wüsste all das, was ich jetzt weiß, dann würde ich nichts anders machen“, beschwor er sie.
Sie schüttelte den Kopf und wich seinem Blick aus.
„Manche Leute denken vor einer Adoption darüber nach, ob sie ein fremdes Kind je so lieben könnten, wie ihr eigen Fleisch und Blut.“
Er hob seine Arme und ließ sie wieder sinken, als wage er nicht, sie zu berühren.
„Ich habe mich das nie gefragt.“
Behutsam legte er nun doch eine Hand auf ihre Schulter.
„Ich wusste immer, ich könnte kein anderes Kind mehr lieben als dich.“
Er sah, dass sie weinte.
„Es tut mir leid. Bitte verzeih mir“, flüsterte Verhoeven an Julias Wange und registrierte erleichtert, dass sie sich in seine Umarmung schmiegte.

Ich schau heute Abend mal genauer rein. Was möchtest du haben, eine Textarbeit oder nur einen Eindruck mit - möglicherweise - ein paar Änderungsvorschlägen?

Wenn die Szene mit dem Ruf beginnt, öffnet sie sofort mit Bewegung und Ton.
Der Leser wird direkt hineingezogen, bevor die Beschreibung folgt.
Das wirkt dynamischer, weil Sinneseindrücke (erst hören, dann riechen, dann fühlen) in der natürlichen Wahrnehmungsreihenfolge kommen.

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Ich möchte gern wissen, ob deine Wahrnehmung ähnlich ist, bezüglich Erzähltempo, Infodump(?). Kann man irgendwo kürzen? Ist es in sich „homogen“- wenn nicht, was fehlt/ würdest du anders machen. Ich wollte gern Spannung erzeugen. Gelingt das trotz der „Sachtexte“ (DNA Analyse) oder sind sie zu lang. Ist es pathetisch (das will ich auf gar keinen Fall!!!) Wo siehst du Verbesserungspotential oder Schwachstellen, die mir entgehen?
PS: Lieben Dank vorab.

Ich find den Vergleich richtig klasse!
„Unsichtbar“ ist für mich fast schon überflüssig – Geister sind ja sowieso unsichtbar :wink:
Ohne das Wort bleibt das Bild genauso stark, vielleicht sogar noch einen Tick prägnanter.

Also ich find das jetzt nicht so schlecht! Erzähltempo passt für mich. Lediglich die Eskalation im Dialog ist etwas „gestolzt“ (meinem Empfinden nach). Da wirkt es etwas künstlich gesprochen. Mit dem Infodump kann ich in dem Maße gut leben, denn ohne funktioniert die Szene nicht. Das hab ich schon 1000x schlimmer gelesen bei renommierteren Autoren. Also gut so.
Einzelne Formulierungen würde ich anders schreiben - aber ich bin ja ich und du bist du. Und immer mal wieder Wortgruppen, die man einfach rausstreichen kann
Insgesamt lebendig, zwischenzeitlich etwas chaotisch (wer spricht gerade). Aber dadurch kommt ja auch Dynamik. Die Sachtexte, hmm, kann man sicherlich etwas geschmeidiger machen (andererseits gibt es ja genau solche Texte).

Also: alles andere als zum verzweifeln!

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Also ich kann da nichts erkennen, was mich schriftstellerisch an dem Text besonders stören würde. Es ist ganz was anderes, das mich stutzen lässt, liebe @Antje6 , nämlich, warum du dir „seit Wochen“ so schwer tust, weiter zu schreiben. Was das mit deiner Identifikation mit deiner Prota zu tun hat, was konkret in dir, in deinen Unterbewusstsein, dich daran hindert. Und unmittelbar zu einer Frage führt, die psychiatrisch denkenden Menschen wie meinereins sofort einschiesst (verzeih mir bitte): Wovor hast du Angst?
Aber vielleicht lehne ich mich jetzt auch zu weit aus dem Fenster …

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Um deine Fragen zu beantworten, hier meine Eindrücke:

Das Erzähltempo finde ich in Ordnung, es besteht auch eine gewisse Spannung, wenn man auch diverse Kleinigkeiten straffen könnte. Z.B. am Anfang die Szene im Wald mit ihrem Hund, falls die nicht noch später wichtig wird, würde ich sie weglassen.
Die Dialoge finde ich etwas zu gestelzt, sie wirken auf mich nicht wirklich natürlich.

Infodump sehe ich keinen, trotzdem denke ich, dass der Abschnitt mit dem ‚Sachtext‘ problematisch ist. Otto Normalleser hat wenig bis keine Ahnung, was mit mtDNA und Haplogruppen genau gemeint ist. Die Sache scheint immens wichtig zu sein, mit einer solch elaborierten Formulierung wirst du viele deiner Leser aber nicht erreichen, weil die gar nicht verstehen oder nachvollziehen können, worum es geht.
Ich würde das alles so umformulieren, dass es auch für Laien gut verständlich ist.

‚Fresshypnose‘ finde ich ein ganz tolles Wort.

Dass du ständig den Familiennamen erwähnst, finde ich etwas ziemlich nervig ;), und hat Julia eigentlich ein Problem mit Nahrung?

Und noch zwei formale Dinge:

  • wenn nach einer wörtlichen Rede noch ein Inquit kommt und sie deswegen mit einem Komma geschlossen wird, wird vor dem schließenden Anführungszeichen kein Punkt gesetzt.

„Ich geh rauf. Gute Nacht Mama.“, rief Julia hastig,

Der Punkt nach Mama gehört weg.

  • Wenn eine Person erst etwas tut und dann etwas sagt, kommt keine neue Zeile. Umgekehrt (also erst Satz, dann Handlung) genauso, und auch bei Satz – Handlung – Satz. Solange dieselbe Person das alles macht, kommt keine neue Zeile!
    Auf diese Weise behält man den Überblick, wer was sagt und macht, was bei dir hier ein bisschen durcheinandergeht.
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Liebe Kollegen @Gschichtldrucker ,@Yoro, @michel ,@Lanan
Vielen Dank für das Feedback.

Ja, die Dialoge…finde ich auch etwas bemüht. Da werde ich noch mal glätten.

Die Hundeszene im Wald hat keine großen Auswirkungen auf später und dient hier eher als „Stimmungsmacher“. (diffuse Bedrohung)
Sinnvoll kürzen- weiß nicht wie. Dann lass ich sie eher weg. Vielleicht.

Julia hat keine Esstörung. Sie trauert, das verschlägt ihr den Appetit. Deshalb auch der Rückzug (verschläft den Tag)

Die Sachtexte sind (im Vergleich zum Anfang) bereits stark gekürzt. Was bis jetzt geblieben ist, hat Bedeutung für Ursache/ Handlungsverlauf. Vermutlich wird es von den meisten zuerst nur überflogen. Das ist in Ordnung, man kann ja auch zurückblättern, wenns wichtig wird.

Die Zeichensetzung. Ich weiß, das ist schlimm. Überhaupt nicht meins. Da muss ich echt an mir arbeiten und es macht mich traurig, dass ich trotz meiner Bemühungen soooo schlecht darin bin.

Das Durcheinander im Dialog und die ständige Namensnennung - auch daran werde ich noch mal arbeiten.

Das Thema (Adoption, bes. Auslandsadoption) hat für mich Bedeutung. Doch zum Glück ist es nicht mit Angst behaftet. Dass ich nicht vorankomme, liegt eher an meinem schwachen Fundament. Ich weiß/ kann zu wenig, um schnell voran zu kommen und ich komm nicht weiter, wenn’s gefühlt nicht passt.

Wie auch immer, ich bin nicht so weit weg von eurer Sichtweise und das empfinde ich positiv.

Also noch mal ganz lieben Dank für eure Mühe.

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Das finde ich persönlich ganz furchtbar.

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Dann weg damit! Für eine reine ‚Stimmungsmache‘ ist die Szene zu lang, als Leser fragt man sich da schon, wo der Zusammenhang mit der Story ist. Wenn da gar nichts kommt, behält man es schlimmstenfalls als offenes Ende in Erinnerung. (Niemals unterschätzen, was sich Leser alles merken - und was nicht).

Ja, das dachte ich mir. Um so wichtiger ist es, dass es möglichst gut verständlich rüberkommt. Späteres Zurückblättern bringt da auch nichts, wenn man nicht weiß, was all diese Ausdrücke bedeuten. Außerdem nervt es immens, wenn man zurückblättern muss.
Ich würde es so lösen, dass Julia das Booklet studiert, kurz überlegt und sich dann selbst das Fachschinesisch in allgemeinverständlichen Text übersetzt.

Hey, rede dir mal nichts ein! Du kannst schreiben und niemand verlangt, dass du im Eiltempo fertig werden musst.

Das kenne ich allerdings auch nur zu gut, und ich weiß bis heute nicht, was man dagegen machen kann. Ich sitze dann auch immer so lange an einer Szene, bis ich damit zumindest einigermaßen zufrieden bin.

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Mir gefällt der Text.

Was mir aufgefallen ist:
Es war noch nicht acht Uhr, als die Stimmen ihrer Eltern vom Zuschlagen der Autotüren abgeschnitten und mit Motorengebrumm davonfuhren.
„Davon fuhren“ würde ich zusammenschreiben.

Alles andere wurde schon geschrieben.

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