Kapitel: 2 Die Wohnsiedlung von Verdi-Mogul.
Die Wohnsiedlung von Verdi-Mogul erwachte langsam zum Leben, als Michael in die Straße einbog, in der seine Eltern wohnten. Die Sonne stand bereits hoch und warf lange Schatten über Vorgärten und sauber gepflegten Auffahrten. Jedes Haus glich dem anderen, zweigeschossig, mit Garage, wetterfester Veranda und gestutzten Büschen, ein amerikanischer Traum im Miniaturformat.
Michael stellte seine Maschine in der Einfahrt ab. Der Motor verstummte, doch das Vibrieren saß ihm noch in den Gliedern. Er nahm den Helm ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr sich durch das noch feuchte Haar. Einen Moment blieb er einfach sitzen. Es fiel ihm schwer, die Schwelle dieses Hauses zu übertreten, zu viel Vergangenheit, zu viele unausgesprochene Dinge, die dort auf ihn warteten, deren Klärung immer in Streit ausarteten.
Er war nicht der Sohn, den sich ein Vater wünschte. Karriere und Wohlstand bedeuteten ihm nichts. Freiheit und Abenteuer, das war sein Weg, solange es ging. Anders als sein Bruder, der längst in Verantwortung für Frau und Kind gefangen war und ihn insgeheim beneidete, ohne es je zuzugeben. Seine Mutter war ihm das Liebste. Sie hatte ihn nie verurteilt und nie fallen lassen und immer Verständnis signalisiert.
Ein Windspiel aus Metall und Glas, das über der Eingangstür hing, klang leise im Morgenwind. Michael atmete tief durch, nahm die Satteltaschen vom Bike und stieg die drei flachen Stufen zur Veranda hinauf. Die Tür war wie immer nicht verschlossen. Er klopfte kurz, dann trat er ein.
Es roch nach Kaffee, nach Gebäck und einem Hauch Lavendel. Auf dem Tisch stand ein Geburtstagskuchen, mit Sahne und Früchten verziert. Daneben eine Vase mit Lilien und ein Zettel in vertrauter Handschrift:
„Michael, falls wir noch schlafen. Der Kaffee ist frisch, schneide bitte den Kuchen an. Er ist für dich. Deine Mom.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er streifte die Jacke ab, stellte die Taschen beiseite und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Der erste Schluck brannte angenehm in der Kehle. Für einen Moment schloss er die Augen und lehnte sich zurück in den vertrauten Küchenstuhl. An der Wand, ein altes Familienfoto, seine Eltern, lachend, vor dem Panorama der Sierra Nevada. Damals, als noch alles vor ihnen lag.
Kurz darauf betrat seine Mutter die Küche, ein Tablett in den Händen. Sie stellte es ab. Sie wirkte kleiner als in seiner Erinnerung, feiner, zerbrechlicher vielleicht. Doch ihre Augen waren hell wie eh und je.
„Du bist wirklich gekommen“, sagte sie schließlich, mit einem unsicheren Lächeln.
Michael stand auf, nahm sie in die Arme, hielt sie fest und küsste sie.
„Ich hab’s dir doch versprochen, Mom“, sagte er leise.
Tränen standen in ihren Augen, sie nickte nur leicht.
„Ich weiß“, sagte sie leise. „Dein Vater schläft noch. Die Nächte sind nicht mehr so einfach für ihn.“
„Geht es ihm schlechter?“ Sagt Michael besorgt.
„Er hat Schmerzen … und Erinnerungen, die ihn nicht schlafen lassen.“
Zwischen ihnen entstand eine Stille, schwerer als Worte. Keine Vorwürfe, nur Müdigkeit, die nicht vom frühen Morgen herrührte.
„Du solltest dich Duschen und umziehen.“
„Das Wasser der Flüsse ist auch nicht mehr das was es einmal war, man springt stinkend hinein und kommt stinkend wieder heraus, nur eben anders.“ Grinste Michael.
Michael blickte zum Fenster. Die Sonne glitzerte auf den Windschutzscheiben der Statussymbole, die in den Einfahrten frisch gewaschen standen. Die Sprinkleranlagen tickten monoton und erzeugten im Wassernebel kleine bunte Regenbogen und Vögel nahmen darin ihr Morgenbad. Draußen wirkte die Welt absurd friedlich. Das Panorama der Gebirgskette in leichtes Morgenrot getaucht, ein Entscheidungsgrund seines Vaters, hier seinen Lebensabend zu verbringen.
„Ich habe Post bekommen“, sagte seine Mutter schließlich, und unterbrach die schwermütige Stille. „Aus Deutschland. von der Gemeinde, es geht um deine Großmutter.“
„Oma Annemarie?“
Sie nickte.
„Sie ist tot. Schon seit über einem Monat. Die Nachricht kam verspätet, wegen einer falschen Adresse.“
Michael kannte seine Großmutter nur aus alten Bildern und gelegentlichen Erwähnungen seines Vaters.
„Sie haben ein Päckchen geschickt. Persönliche Dinge. Briefe, Fotos … und die Rechnung der Beerdigung.“
„Briefe?“, fragte er und beugte sich vor.
„Einige waren für deinen Vater. Und auch welche für dich. Sie hat sich anscheinend nicht entscheiden können sie abzuschicken, wegen des brisanten Inhalts kann ich mir denken. Ich habe ein paar gelesen, es wenigstens versucht. Manche sind in Altdeutsch geschrieben.“
Michael runzelte die Stirn.
„Was stand drin?“
Sie ging zum alten Buffet, öffnete eine Schublade und zog einen vergilbten Umschlag hervor.
„Lies selbst“, sagte sie und reichte ihm die brüchigen Seiten, die anscheinend nicht nur einmal gelesen wurden.
Michael öffnete sie vorsichtig. Die Schrift war alt, krakelig, aber lesbar. Zeile für Zeile arbeitete er sich vor, während ihm eine Gänsehaut die Arme hinauf kroch.
„Ein wertvolles Gemälde? Versteckt hinter einem anderen Bild?“
Er blickte auf. Ihre Augen ruhten ernst auf ihm.
„Ich wusste nichts davon, ehrlich“, sagte sie leise. „Ob dein Vater etwas wusste, weiß ich nicht. Es gibt ein Foto, dein Großvater und Anne, vor dem Bild.“
Michael legte den Brief auf den Tisch. Gedanken rasten durch seinen Kopf.
„Wir müssen mit ihm reden.“
„Nicht heute“, sagte sie rasch. „Heute ist doch mein Geburtstag.“
Leises Knarzen von oben war zu hören. Die Schritte seines Vaters, langsam, schwerfällig, schlürfend.
Seine Mutter räumte das Geschirr zur Seite und verließ den Raum, sie wollte nicht dabei sein, um nicht die Entscheidung, die die Männer treffen mussten, zu beeinflussen.
Kurz darauf betrat Michaels Vater die Küche. Sein Gesicht war schmal, eingefallen. Die Schultern hingen, doch seine Haltung wirkte aufrecht, der Rest eines alten Stolzes. Seine Augen blickten wacher, als sein Gang vermuten ließ.
„Michael“, sagte er leise.
„Morgen, Dad“, erwiderte Michael und erhob sich, um ihm beizustehen, falls er Hilfe brauchte.
Der Vater setzte sich vorsichtig, stützte sich mit der Hand auf der Tischplatte ab und ließ sich mit einem leisen Stöhnen langsam nieder. Sein Blick wanderte zu dem Brief.
„Sie haben uns in Kenntnis gesetzt“, sagte Michael, mehr eine Feststellung als eine Frage.
Alfred nickte langsam.
„Zu spät, leider zu spät. Sie wollte uns nicht zur Last fallen.“
„Sie ist gestorben. Alleine, vor einem Monat.“
Ein weiterer, stummer Moment. Dann ein kaum merkliches Nicken.
„Ich hab den Brief gelesen“, fuhr Michael fort. „Oder besser, versucht. Vieles ist schwer zu entziffern. Aber ich glaube, ich habe verstanden, worum es geht.“
Alfreds Gesicht blieb regungslos, aber in seinen Augen zuckte etwas. Eine Irritation vielleicht, oder ein alter Schmerz, der an die Oberfläche drängte.
„Das Gemälde“, sagte Michael nun deutlich. „Sie hat es versteckt. Hinter einem alten Bild. Es gehörte einer Familie Rosenstern.“
Sein Vater schloss die Augen. Der Name allein schien ihn zu erschüttern.
„Du kanntest sie … die Familie Rosenstern?“
„Nein … mein Vater kannte sie.“
Alfred öffnete wieder die Augen. Der Blick, den er nun auf seinen Sohn richtete, war durchdringend und zugleich fern, wie durch ein Fenster in einer anderen Zeit.
„Sie waren Nachbarn. Sie hatten einen Hopfenhandel bei uns in der Stadt, schon in der dritten Generation. Der alte Rosenstern ist gestorben und der Junge hat übernommen. Er kam aus der Gegend von Wolfratshausen und brachte seine Tochter Elisabeth mit, das dürfte 1923 gewesen sein. Sie war ein hübsches Ding, hat mir mal meine Mutter er zählt. Mein Vater hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt. Meine Mutter hat mir das alles nicht freiwillig erzählt. Ich habe mal am Dachboden in alten Sachen gewühlt und dabei ein Tagebuch gefunden. Es stammte von Elisabeth, mit einer Widmung am Ende. Sie muss es ihm zum Abschied geschenkt haben. Denn der letzte Eintrag war 1928, als sie nach Amerika ging.“
„Ich war damals gerade mal 15 und fand das alles sehr kitschig, ich habe beim Lesen lachen müssen. Erst später habe ich begriffen, wie viel Schmerz in diesen Worten lag.“
Michael schwieg.
„Sie haben sich geliebt.“ Sagte Alfred nachdenklich.
„Du hast nie darüber gesprochen.“
Michael sah ihn lange an.
„Warum hat es deine Mutter behalten?“
„Nach der Reichspogromnacht waren Herr Rosenstern und seine Frau weg. Sie tauchten auch nicht wieder auf.
Daraufhin zog ein SA-Mann in das Haus. Das Bild muss also schon vorher versteckt worden sein. Ich werde den Gedanken nicht los, dass Wilhelm es im Auftrag von Herrn Rosenstern versteckt hat. Die beiden standen sich sehr nahe“
„Und jetzt?“, fragte Michael.
„Jetzt …“, Alfred lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. „Jetzt musst du entscheiden, was du mit der Wahrheit machst.“
„Jon kommt morgen“, sagte er schließlich. „Wir fliegen nach Deutschland.“
Alfred öffnete langsam die Augen. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
„Dann bringt es zurück. Oder … bringt es dahin, wo es hingehört.“
Lieber RudolfH, hinter dem Bild steckt eine interessante Geschichte, der Einstieg gefällt mir schon einmal. Es muss ja nicht heute passieren, aber: Schau doch, ob jedes Adjektiv/Adverb nötig ist. Etwas unglücklich ist der Zeilenabstand in den Dialogen, die mir übrigens etwas gehetzt vorkommen. Geschmacksache, ich bin in dem Bereich vielleicht etwas zu gemächlich. Du könntes noch die Formatierung checken. Oder hast Du zwei Freischaltungen angeschlagen? Nach einer müsste es dann ja bei einem Sprecherwechsel eingerückt auf der nächsten Zeile weitergehen. Ach: Einmal erhebt sich Wilhelm vom Stuhl statt Michael . Viel Erfolg weiterhin!
Ich werde es überprüfen, ich habe es von OpenOffice kopiert und eingestellt und nicht auf das Erscheinungsbild geachtet. Danke für den Hinweiß.
Ich arbeite immer noch mit dem Programm, alte Gewohnheit.
Ja, genau so, an dieser Stelle werde ich in die Gefühle der Hauptperson hineingenommen. Daumen hoch!
Hier werden die Beziehungen untereinander sehr kurz zusammengefasst. All das könntest du uns stattdessen nach und nach entdecken lassen, wenn diese Personen aufeinandertreffen, und uns dann wieder in die Gefühle der Hauptperson hineinnehmen. Was geht in ihm vor, wenn seine Mutter bei der Begrüßung seine Umarmung kaum erwidert und gar nicht fragt, wie es ihm geht …?
Sie ist noch geschockt von dem Brief und deswegen auch kurz angebunden, aber du hast recht. In der Vorgängerversion habe ich das Wiedersehen viel emotionaler geschrieben, das werde ich auch hier einfügen.
Wie sich die Familienmitglieder verhalten, passt schon alles, schlüssig und glaubhaft, ich würde als Leser nur gern erfahren, was dabei in Martin vorgeht. Dabei könnte dann für den Leser auch spürbar werden, dass er sich der bedingungslosen Liebe seiner Mutter sicher ist, statt dass die bedingungslose Liebe oben kurz in der „Zusammenfassung“ erwähnt wird.
Olivia hat Tränen in den Augen, als sie ihren Sohn sieht. Sorgenkinder bleiben eben das Herz der Mütter, warum auch immer. Sie umarmt ihn fest.
„Alles Gute zum Geburtstag, Mom.“ Michael küsst sie auf die Stirn.
„Geh bitte auf dein Zimmer, zieh dich um, alles liegt bereit. Und: Dusch dich.“
Das wollte er vermeiden. Aber Flüsse sind eben auch nicht mehr das, was sie mal waren. Man steigt stinkend hinein – und kommt stinkend wieder raus. Nur anders.
Zur Info: Michael hat im Freien geschlafen und dann in einem Fluss gebadet, bevor er am Morgen weiter fuhr.