Draußen taumeln im Lichtkegel der Straßenlaternen einige Schneeflocken zur Erde. Auf den Wegen zwischen den Häusern ist Ruhe eingekehrt. Drinnen im Zimmer fünfzehn sitzt Frau Varga und malt im Schein der Schreibtischlampe. Ihre Zungenspitze wandert konzentriert von einem Mundwinkel zum anderen. Aus dem Zimmer ist hin und wieder ein kurzes Schnarchen zu hören und dazwischen das sachte Quietschen von Gummisohlen.
„Jetzt müssen wir langsam Schluss machen, gell?“ Das lächelnde Gesicht der Nachtschwester schwebt mondähnlich in der Dunkelheit.
Frau Varga sieht hoch. Sie schüttelt den Kopf. „Nein! Das geht nicht. Ich muss das fertig malen, sonst schimpft die Frau Lehrerin mit mir.“ Die Stimme ist brüchig. Brüchig wie die kurzen weißen Haare, zwischen denen die Kopfhaut hervorschimmert. Brüchig wie die Nägel an den mageren Fingern. Der Kopf senkt sich wieder, unbeirrt.
„Frau Varga, kommen Sie, Sie sind ja schon ganz furchtbar müde.“
Der Einwand wird wortlos übergangen.
„Wann müssen Sie das Heft abgeben?“
„Morgen um acht.“
Die Schwester stellt ein Häferl mit Tee auf den Tisch.
„Wissen S’ was? Jetzt trinken Sie einmal Ihren Tee und dann schau’n wir weiter.“
Den Tee mag die Frau Varga gern. Er schmeckt nach Zimt und nach Orangen.
„Gut?“, fragt die Schwester.
„Gut.“
Mit leisem Schmatzen wird der Tee ausgetrunken, wie immer lehnt sie sich sogar zurück, damit nur ja kein Tropfen übrigbleibt.
Behutsam greift die Schwester nach dem schmalen Handgelenk der alten Frau, klopft mit dem Finger leicht auf das Ziffernblatt der Armbanduhr.
„Es ist schon spät. Ich wecke Sie morgen früher und dann können Sie das Bild fertigmalen.“
„Früher.“
„Ja, früher. Dann sind Sie um acht fertig. Gut?“
„Gut.“
Ohne weitere Widerworte lässt sich Frau Varga entkleiden und danach ins Nachthemd helfen.
Endlich liegt sie im Bett, die Hände ordentlich über der Bettdecke gefaltet.
Aber sie ist noch nicht müde genug.
Sie hat noch etwas auf dem Herzen.
„Ich bekomme bald Besuch.“, flüstert sie geheimnisvoll.
Die Schwester stutzt kurz und geht dann auf die Geschichte ein.
„Das ist fein. Wann genau kommt er denn, der Besuch?“, fragt sie ebenfalls flüsternd nach.
„Das weiß ich noch nicht. Gute Nacht.“
Frau Varga lächelt zur Schwester hoch, die ebenfalls lächelnd mit leichten Kopfschütteln das Bettlämpchen löscht.
„Gute Nacht, schlafen Sie gut.“, sagt sie noch, dann ist sie fort.
Die alte Frau blickt zum Fenster hinüber, vor dem nun schon viele Flocken wirbeln.
Seltsame Umrisse bilden sich für die Dauer eines Herzschlags, wie in einem Kaleidoskop verändern sie sich unentwegt, bilden sich neu, anders, zerfallen, werden hinweggefegt und aufs Neue herangetragen.
Ein heftiger Windstoß drückt plötzlich einen Fensterflügel auf - eine Wolke aus Schnee tanzt ins Zimmer, das Fenster schlägt zu, wieder auf und wieder zu, die Scheiben klirren - bis die Nachtschwester herbeieilt und dem Spuk resolut eine Ende bereitet.
Besorgt geht sie danach zu jeder ihrer Schutzbefohlenen, aber die alten Damen schlafen alle tief und fest.
Schwerhörigkeit kann auch ein Vorteil sein, denkt sie, während sie routinemäßig hier eine Decke richtet und dort ein Wasserglas zurecht rückt.
Bevor sie das Zimmer verlässt, wirft sie auch einen prüfenden Blick auf Frau Varga. Die liegt ganz ruhig und entspannt in ihren Kissen und scheint ebenfalls tief und fest zu schlafen.
Seltsam, diese Geschichte mit dem Besuch.
Eben will sie die Tür in Schloß ziehen, da sieht sie aus dem Augenwinkel einen kleinen Wirbel aus Schneeflocken mitten im Zimmer.
‚Das kann doch nicht …‘, denkt sie - da ist der Wirbel auch schon verschwunden und hat einem funkelnden Nebel Platz gemacht.
Sie steht wie festgefroren. Der Nebel verdichtet sich.
Ein geistliches Gewand wird sichtbar - eine elfenbeinfarbene Dalmatik, darüber eine Kasel aus gold und rot. Langsam erscheint ein schmales Gesicht mit olivfarbenem Teint. Sanfte dunkle Augen leuchten unter den dichten Brauen.
Frau Varga hat sich aufgesetzt. Sie blickt der Erscheinung entgegen, die sich ihrem Bett nähert. Die Seide der Kleidung raschelt, als sich die Gestalt zu ihr hinunter beugt, um sie auf die Stirn zu küssen.
Sie sinkt zurück. Eine eigenartige Wärme beginnt von ihren Armen hinauf zu ihren Schultern und nach vorn zur Brust zu laufen. Sie horcht in sich hinein. Nein, das ist nichts Böses. Ganz im Gegenteil. Sie kuschelt sich in die Decke und schmiegt sich an den Polster. Das fühlt sich tröstlich an, wohlig und behaglich. Fast wie eine Umarmung.
Nach und nach verblasst das Traumbild.
Die Schwester schreckt aus ihrer Erstarrung auf.
In den Kissen leuchtet ein Gesicht in kindlicher Freude und Unschuld.
Von der nahen Kirche rufen die Glocken zur Christmette.
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In einem Alten-/Pflegeheim würde man nicht jedes Wort glauben. Manche Menschen sind dement, verwirrt oder befinden sich in einem Bereich zwischen Leben und Tod, der sich nicht jedem erschließt. Das Thema finde ich spannend. Zwischen den Zeilen würde ich herauslesen, daß die Dame in Ruhe gegangen ist. Eigentlich würde ich mehr von diesem Übergang-Stadium, als Leser, erfahren wollen.
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Du hast es genau verstanden. Und jenen Übergang hätte ich auch gern genauer beschrieben, aber da fehlt mir das Einfühlungsvermögen und das Feingefühl.
Danke - liebe Grüße VMK55
Du bist eine kreative Seele, also bestreite den Weg auf Deine Weise. Nicht jeder Tod ist ‚fein‘. Nimm uns mit.
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