Charakterbuilding - wie tief tauche ich in die Welt des Protas ein?

Hallo erstmal in die Runde,

mich beschäftigt seit vorhin beim Lesen des Buches „Der Dunkelelf“ (ein Fantasy-Roman von einer Susanne Gavénis, der mir sehr gut gefällt) eine Frage und dachte mir, ich stelle sie einfach mal hier rein.

Ausgangslage:
Ich habe ja schon unheimlich viele Projekte begonnen, nun stellt sich mir aber die Frage, wie ich etwas Tiefe in meine Protas reinbringe. Also nicht nur oberflächlich beschreiben, wer was macht, wer welche Rasse, Klasse hat (z. B. bei „Coloria“) oder wer was sagt. Mir geht es wie im Thread beschrieben darum, dem Prota mehr „Innenleben“ zu verpassen, damit der Leser auch wirklich gut in die Gefühlswelt des Protas eintauchen kann.

Frage:
Wie bringt ihr Tiefe in eure Protas? Also, dass man wirklich im „Inneren“ des jeweiligen Protas reinkommt. Das würde mich interessieren.

Gruß

Super Girl

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Indem du den Protas bestimmte Charakterzüge verpasst. Emotionale Tiefe. Besondere Hobbys, Tics die sie einzigartig machen. Eben ein komplexes Persönlichkeitsprofil anlegst. Ihnen eine Vergangenheit gibst. Zukunftswünsche. Wovon Träumen sie? Was bewegt sie/motiviert sie? Gute und negative Seiten. Wie im realen Leben…und innere Monologe helfen auch. Aber nicht zu viel davon

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Das „Innenleben“, sprich das, was wir als „Charakter“ bezeichnen,ist die Summe der gemachten Erfahrungen und des Feedbacks unserer Bezugspersonen auf unsere Reaktion auf diese Erfahrung. (Hört sich kompliziert an und ist es auch). Ohne Biografie-Arbeit - bei den wichtigsten Protas (egal ob du das den Lesenden mitteilst oder nicht) kommst du nicht weiter, bzw in das, was du „Tiefe“ nennst.

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Man haucht ihnen Leben ein, indem man ihnen eins gibt. Es reicht nicht zu schreiben X/Yist so und so.
Auf das Warum kommt es an.
Selbst, wenn der Leser nie erfährt, dass der Charakter verbittert ist, weil die Liebe seines Lebens ertrank; 6 Monate nachdem er sie seinem Sohn ausgespannt und sich von seiner Ehefrau getrennt und auch noch im Job versagt hat.
Es reicht sogar, dass nur du es weißt. Denn du wirst gelegentlich Mitleid mit dem Kerl haben und manchmal sauer auf ihn sein- genau die Ambivalenz, die ihm Vielschichtigkeit verleiht, wie es zu einem Charakter gehört.
Also denk dir aus, WIE er ist und WARUM er so ist.

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Danke für die Tipps! In einem Extra-Thread kommt ein Beispiel meinerseits auf Basis dessen, was ich heute gelesen habe. Ich hoffe, ich habe meinem Haupt-Prota (Cole) genügend Tiefe verliehen.

Gruß

Super Girl

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Nun, ich denke, auch deine Protas leben. Will sagen, man muss nicht gleich zu Anfang jedes Charakterfitzelchen erwähnen, das entwickelt sich.

Mit den Figuren ist eigentlich wie bei allem beim Schreiben: show, don’t tell. Man lernt die Figuren durch ihr handeln kennen, wie in der echten Welt auch.

Nehmen wir als Beispiel Herbert. Er hat eine halbglatze und meistens Sonnebrand. Seine Arme sind zernarbt und zerkratzt, denn er geht jeden Tag von morgens bis abends im Wald holz hacken, weil er jetzt in seiner Pension nicht untätig herumsitzen möchte.
Alles, was man ihm erzählt, legt er auf die Goldwaage. In geschlossenen Räumen, vor allem an fremden Orten, sieht er sich immer aufmerksam um und er beobachtet seine Mitmenschen genau.

Verstehst du, was ich dir zeigen möchte?
Charakterzüge lassen sich durch das Verhalten der Person, durch Eigenheiten oder auch durch ihr Aussehen festellen.
Dein Leser muss das aber überhaupt nicht alles wissen. Wichtig ist, dass du deine Figuren kennst, dann kannst du ihnen Leben einhauchen.
Grundsätzlich würde ich empfehlen (es gibt Ausnahmen), dem Leser das alles nach und nach zu erzählen, wenn eine Situation aufkommt, in der es wichtig ist. So vermeidest du Infodump.
Dialoge sind da ein super Werkezeug für, hier könnte man zum Beispiel durch ständiges Nachfragen zeigen, das Herbert misstrauisch ist.
Vielleicht gibt es auch ein bestimmtes Wort, was er immer wieder nutzt?

Außerdem könntest du die Motivation der Protagonisten hinterfragen. Welches Ziel (auch wenn in der Geschichte nicht benannt) haben sie in ihrem „Leben.“

z.b könnte eine Protagonistin zwei Freunde haben, die sie unterstützen. Der eine ist auf Beziehungsebene an ihr interessiert, der andere hat eine religiös motivierten Hintergrund zu helfen. Dem entsprechend werden die Dialoge zur Protagonistin anders.
Nr.1 wird vielleicht Andeutungen machen (flirten im Sinne (wie lustig du aussiehst, wenn du etc.), Nr. 2 wird sich mehr um ihr Innenleben bemühen (wie geht es dir? Hast du alles, was du brauchst?)

Das ist auch bei Widersachern sehr wichtig. Warum handelt der dunkle Orden so „böse“? Macht und Einflussnahme ist allein nicht ausreichend.

z.b Der Film „Die Mumie 1“ der Bösewicht möchte seine verlorene Liebe wiederbeleben! Wenn das kein Grund ist. :stuck_out_tongue:
Bei Mumie 3 hat der Bösewicht garkeine Gründe. Er ist einfach Böse, weil ers kann. Dadurch wirkt der Widersacher in diesem Film sehr schwach und zieht auch den ganzen Film hinunter.

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Also wenn eine Gruppe „gleichgesinnter“ in eine Richtung laufen, frage sie, was ihr Motiv ist. Sagen wir der Hänfling Hannibal möchte einen Zyklopen erlegen. Dafür hat er sich einen extrem spitzen Holzspeer geschnitzt.
Warum schließt sich Ritter Ronald an? Will er Hannibal auf seinen Selbstmordtrip beschützen? Oder will er sich nur selbst im Kampf etwas beweisen? Oder hat Hannibal die attraktive Schwester Hannah, die Ronald beeindrucken will?
Man muss den Grund nicht benennen. Aber man könnte im Dialog durchsickern lassen, dass es einen Grund gibt. Das erzeugt Spannung, denn der Leser möchte herausfinden, ob er diesen Grund erfahren wird :slight_smile:

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Und es gibt auch negative Motive zu helfen. Zum Beispiel könnte Ritter Ronald daran interessiert sein, dass Hannibal vom Zyklopen gefressen wird, damit er sich um die trauernde Schwester kümmern kann. So etwas könnte sich im Dialog abzeichnen:
„Manchmal glaube ich, ich könnte zu schwach für den Zyklopen sein.“
„Nur Mut. Du wirst das schon schaffen“, meinte Ronald zuversichtlich. Aber sein Lächeln erreichte nicht seine Augen.
„Du zweifelst, oder?“
„Tut das nicht jeder, hin und wieder? Wichtig ist nur, dass du voran gehst und ich … dir den Rücken frei halte.“
Dem Leser wird sehr bald klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Und das macht die Sache interessant.

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Ich glaube, dass das eine zentrale Aufgabe ist: sich sehr intensiv mit der Biografie, der Psychologie, dem Sozialleben seiner Figuren auseinanderzusetzen. Ich nehme mir dafür inzwischen reichlich Platz und Zeit - wobei ich davon abgekommen bin, die dafür vorgesehenen Pesonen-Datenbanken bei Papyrus zu nutzen, weil sie mir zu zergliedert sind. Hilfreich natürlich, um bestimme Eckpunkte sichtbar zu halten, v.a. bei Nebenfiguren.

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Tatsächlich skizziere ich Protagonisten am Anfang nur. Das heißt sie sind ein bisschen ein Stereotyp + ein verstecktes Motiv. Das brauche ich für die Dialogfarbe. Das finde ich deshalb in Ordnung, da Menschen bei Bekanntschaften „in der echten Welt“ Leute auch erstmal in Schubladen stecken.

Da ich häufig einen „Hauptcharakter“ habe, aus dessen Perspektive die Geschichte erlebt wird, reicht das am Anfang. Sobald sich ein dauerhafter „wichtiger“ Nebencharakter abzeichnet, wird der jeweilige Protagonist immer schärfer gezeichnet. So im echten Leben, wenn dir dein Kumpel überraschend erzählt, dass er gerne Filzhüte faltet :stuck_out_tongue:

Davon unabhängig ist der der „Haupt-Protagonist“ natürlich von Anfang an tiefer geplant, sowie der Widersacher. :slight_smile:

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Du hast schon einige Antworten in Richtung „Biografie“ erhalten. Ein Tipp ist es, tatsächlich einen Lebenslauf des Protas (und weiterer Personen) zu schreiben. Dann wird dir klar, warum er so handelt wie er es dir aufdrängt. Ein weiterer Weg ist: Google mal den „FAZ-Fragebogen“. Der ist für ein intimes Kennenlernen eines Interviewpartners, natürlich auch einer Interviewpartnerin, konzipiert und er lässt Einblicke in die Bio und das Seelenleben zu. Stelle deinem Prota doch diese Fragen und du wirst ihn sehr gut kennenlernen.

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keine schlechte Idee!

Ich habe das gleich mal getan.

Die exakte, vollständige offizielle Liste variiert mit der Ausgabe; hier sind typische Fragen, wie sie bei der FAZ regelmäßig gestellt werden:

  1. Was ist für Sie das größte Unglück?
  2. Wo möchten Sie leben?
  3. Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?
  4. Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
  5. Ihre liebsten Romanhelden?
  6. Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit?
  7. Ihre Lieblingsheldinnen in der Dichtung?
  8. Ihr Lieblingsmaler?
  9. Ihr Lieblingskomponist?
  10. Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
  11. Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
  12. Ihre Lieblingstugend?
  13. Ihre Lieblingsbeschäftigung?
  14. Wer oder was hätten Sie sein mögen?
  15. Ihr Hauptcharakterzug?
  16. Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?
  17. Ihr größter Fehler?
  18. Ihre Lieblingslyriker?
  19. Ihre Helden in der Wirklichkeit?
  20. Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?
  21. Welche Reform bewundern Sie am meisten?
  22. Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
  23. Wie möchten Sie sterben?
  24. Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
  25. Ihr Motto?
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Tiefe der Figuren bekommt man durch Konsistenz. Lass deinen Helden handeln, dadurch charakterisierst du ihn am besten. Selbst dann, wenn er heute hü und morgen hott sagt. Dann ist eben das sein Charakter. Mir hat ein ellenlanger Lebenslauf, den ich vor dem Buch schreibe, nicht geholfen, ich habe den Roman nach einem Viertel abgebrochen. Ich lasse meine Helden nach Gefühl handeln, nach meinem Gefühl. Richtige Bösewichte habe ich gar nicht, weil ich Bösewichte nicht besonders mag. Meine Verbrecher sind meist selbst Opfer ihrer Umstände. Aber diese Umstände werden mir dann klar, wenn ich sie brauche. Ich formuliere sie bei Bedarf.

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Ich halte so einen Fragebogen für viel zu starr. Mich persönlich würde das ausbremsen. Ich handhabe das auch eher so wie @Nopuli .

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Neben den tollen Tipps hier finde ich es persönlich weniger wichtig, einen (Haupt-)Charakter bis ins allerletzte Detail zu verstehen, als vielmehr seine Entwicklung innerhalb meiner Geschichte, die ja nur eine Lebensepisode erzählt. Verändert sie ihn vom Saulus zum Paulus oder umgekehrt? Wird der Nebenheld womöglich der Liebling der Leser (Oft selbst erlebt, dass ich den eigentlichen Helden nicht mag, sondern seinen ‚Unterstützer‘: also Team ‚Sam‘, nicht ‚Frodo‘.)? Langweilig wird es meist, wenn Vorhersehbarkeit den Stoff regiert. Man kann mit dem Leser spielen, indem man ihn, sofern vorhanden, bei seiner Empathiefähigkeit packt. Kann er Reaktionen nachvollziehen oder stößt ihn eine ab.

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ich hatte den Vorschlag so verstanden, dass der Fragebogen hilfreiche zusätzliche Impulse geben könnte. Das sehe ich persönlich durchaus so.

Deine Intention ist mir klar. Ich meinte damit nur, dass ein solcher Fragebogen für mich keinen Mehrwert bringt sondern eher das Gegenteil bewirkt.

hier gibt es, soweit ich das verstehe (?), zwei Fraktionen in dieser Frage: die einen, die sich vorab sehr intensiv mit ihren Figuren auseinandersetzen, sie möglichst genau verstehen und kennenlernen wollen, um sie in der Geschichte adäquat reden, handeln und sich entwickeln lassen zu können und die anderen, die eher intuitiv arbeiten, bei denen die Figuren sich eher während des Schreib-Prozesses formen. Letzteres habe ich auch versucht, aber es funktioniert bei mir nicht wirklich - schon weil ich das Gefühl habe, dass dann zuviel von meiner jeweiligen „Tagesform“ auf die Figuren abfärbt. Also handhabe ich es jetzt so, dass ich mich sehr intensiv - mindestens so intensiv wie mit dem Plot selbst - mit meinen Figuren beschäftige und dabei auch sehr in Details gehe, egal was davon irgendwann im Text benötigt wird. Das hilft mir, eine Figur glaubwürdiger zu gestalten. So ein Fragebogen wie oben, zumindestens einige der Fragen daraus, ist für mich einfach eine interessante Erweiterung.

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Du verstehst alles richtig. Der Fragebogen scheint für dich zu passen und hilft wahrscheinlich auch anderen Mitstreitern.