Castaway – Eine Nacherzählung
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Ich hätte fliegen sollen. Das war meine Bestimmung: Über das Netz fliegen, mich über die Spieler erheben, von ihnen erhoben werden für kurze Augenblicke voller Leichtigkeit und Glück.
Ich wäre aufgegangen in dieser meiner Bestimmung; für nichts anderes bin ich geschaffen worden. Doch als ich endlich meine wahre Geburt erlebe, von aufgeregten Händen hastig aus meinem Karton gerissen, bin ich auf einer Insel. Einer kleinen, einsamen, sehr einsamen Insel, öde und verlassen bis auf einen einzigen Menschen, der wie ich hier gestrandet ist. Der Mensch ist nicht glücklich, mich zu finden. Er wühlt in den an Land gespülten Kartons auf der Suche nach nützlicheren Dingen. Über eine Angel hätte er sich bestimmt gefreut. Oder über ein Feuerzeug. Oder ein paar Nägel. Aber nicht über einen Volleyball. Was soll er auch mit mir anstellen auf dieser einsamen Insel? Und was ich mit ihm?
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Ich habe ein Gesicht - ein Gesicht aus Blut! Der Mensch legte mir seine Hand auf, eher zufällig nach einer Verletzung, und gab mir so ein Gesicht.
Ich kann mein Spiegelbild in seinen Augen sehen, wenn er mich nachdenklich betrachtet. Nun, da ich ein Gesicht habe, widmet er mir seine Aufmerksamkeit. Er hat Hunger. Er hat Angst. Er fühlt sich vollkommen verlassen. Seine Verzweiflung schreit er mir in mein blutiges Gesicht.
Später macht er mir Haare aus Stroh und gibt mir einen Namen. Für mich ist es ohne Bedeutung, ihm jedoch ist es wichtig. Vielleicht glaubt er, er wäre nicht mehr so alleine, wenn ich einen Namen habe.
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Die Zeit vergeht langsam auf der Insel. Anfangs lernt der Mensch. Wie man Kokosnüsse öffnet. Wie man Fische fängt. Wie man Feuer macht. Doch schon bald gibt es für ihn nichts mehr zu lernen. Der Mensch schläft nur noch und frisst, schläft und frisst. Manchmal spricht er mit mir, wenn ihn seine Einsamkeit erdrücken will. Aber es wird immer weniger, das er mir zu sagen weiß. Eines Tages wird er genauso stumm sein wie ich. Nur das Schlafen und Fressen hat er mir dann noch voraus.
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Mehr und mehr verzweifelt der Mensch. Trübe starrt er auf mein Blutgesicht, das allmählich verblasst. Wenn er gelegentlich noch zu mir spricht, dann kehlig und knurrend. Ich höre ihm nicht mehr zu. Irgendwann packt er mich und schleudert mich aus seiner Höhle, über die Klippen hinaus bis fast zum Meer. Endlich fliege ich, aber das bringt mir keine Befreiung.
Nach einer Weile holt mich der Mensch zurück in seine Höhle. Er ist lieber mit mir zusammen alleine. Sogar mein Gesicht frischt er mit seinem Blut wieder auf.
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Aus dem Meer wurde etwas an Land getragen. Ein großes Ding aus Plastik. Lange hockt der Mensch stumm davor, starrt auf das Ding und die offene See. Dann lacht er krächzend.
Und er beginnt, ein Floß zu bauen. Das Plastik ist sein Segel. Ich bin seine Galionsfigur. Eines Tages brechen wir auf, der Mensch und ich. Bald verschwindet die Insel hinter dem Horizont. Um uns sind nur noch Himmel und Meer.
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Ein Sturm hat das Segel fortgerissen. Das Floß ist nur noch ein wirres Geflecht aus Holz. Darauf liegt mein Mensch und schläft. Er hat seinem Schicksal getrotzt. Im Grunde hat er schon jetzt gewonnen und damit auch mich zum Sieg getragen. Ich kann ihm nicht mehr helfen.
Wasser schwappt über das Floß, und ich folge seinem sanften Sog. Langsam erst, dann immer schneller werde ich davongetragen. Mein Mensch springt auf. Verzweifelt brüllt er mir meinen Namen hinterher. Aber ich bin schon zu weit fort, er kann mich nicht mehr einholen, und zuletzt verklingen seine Rufe hilflos hinter den Wellen.
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Der Wind wird stärker, treibt mich über die Wogen, hebt mich über ein feines Netz aus Gischt und Schaum. Voraus ist nur das endlos weite, blaue Nichts. Salzige Tropfen waschen mein Blutgesicht davon, als ich ihm entgegen fliege.