Ihr Lieben, wie versprochen… ich gebe Euch eine Kostprobe eines meiner Bücher, welches ich zeitnah herausbringen möchte.
Mich interessierte Euer ehrliches und schonungsloses feedback, ob die ersten Seiten zum Weiterlesen anregen, was Ihr denkt was in dem Buch passiert und ob es Euch an andere Bücher erinnert.
Mehr dazu auch auf meiner webpage.
Vielen lieben Dank und here we go…
(stelle gerade fest, dass ich nichts hochladen kann, die pdf Datei findet Ihr in Kürze auf meiner homepage. Leseprobe länger als hier reinpasst…)
Der OPILARGEOFILTRIERER, aus der zukünftigen Reihe „Die Abenteuer des Dr. Quinn Larazius“, von Benedikt Ernst
(1)
Erwin Haberstett wachte auf wie jeden Tag: zu früh, denn der Wecker hatte noch nicht geklingelt, zu früh, denn es war noch dunkel und zu früh, denn seine Katze hatte ihn noch nicht gebissen. Letzteres war nicht das Schlimmste, aber insgesamt war es irritierend. So ging es ihm nämlich bereits seit einem halben Jahr. Seit er von seinem Arzt die Tabletten gegen Heuschnupfen verschrieben bekommen hatte. Der Schnupfen hatte sich daraufhin zwar gebessert, aber er wachte jeden Morgen, noch vor Wecker, Tageslicht und Katzenbiss auf – also zu früh.
Er gähnte.
Immerhin war dieser seltsam schreckliche Albtraum vorüber. Eine schweißtreibende, surreale Verfolgungsjagd. Mit eigenartigen Gestalten.
Er streckte seine schmerzenden Glieder. Er gähnte erneut und beschloss, in aller Ruhe zuerst sein rechtes Auge zu öffnen, um im Anschluss, mit etwas Verzögerung, das linke Auge zu öffnen. Ganz langsam. Eins nach dem anderen. So wie jeden Morgen. Es eilte ja nicht.
Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an.
Er blinzelte.
Beide Augen sprangen auf.
Er starrte nach oben und der Anblick gab seinem vegetativen System eine mentale Kopfnuss.
Die Decke!
In luftiger Höhe thronte eine steingraue, mit Spinnweben behangene, schmutzige, rissige Decke und starrte ihn unheilvoll an.
Mit einem Ruck saß er aufrecht.
Ein beklemmender kahler Raum sprang ihn an. Die Wände grau und hoch; abgenutzt und schäbig. Überall Spinnweben. Ein Boden aus Stein. Es roch modrig. Es war nass und kühl. An der Seite ein kleines Fenster, verdreckt und durch vier dicke Eisenstäbe vergittert. Am anderen Ende eine massive Tür, ohne Griff, dafür mit Luke. An der Wand hing ein kaputtes Waschbecken mit einem winzigen, schiefen Spiegel darüber, und, oh, das war ja widerlich – in der Ecke stand eine versiffte Kloschüssel ohne Deckel!
„Was zum …“
Erwins Kopf dröhnte und kreiste. Wo in Dreiherrgottsnamen war er?
Er erhob sich wackelig, glaubte so etwas wie Realität zu verspüren und bewegte sich zögerlich auf die Tür zu. Doch wie sollte er diese ohne Griff öffnen? Einen Versuch konnte es nicht schaden.
Er erfühlte das kalte, dunkle Holz und die metallenen Schienen. Er drückte und versuchte zu ziehen. Er tastete umher. Sie ließ sich nicht öffnen.
Er gab sich eine Ohrfeige. Nichts hatte sich verändert. Offensichtlich träumte er nicht.
‚Dann war das also echt?‘
Etwas in ihm begann unruhig zu werden. Er drehte sich um und betrachtete nervös die vier Wände um sich herum. Sie schienen näherzukommen. Er nahm die graue, kalte Abscheulichkeit des Raumes wahr, dachte die verschlossene Tür weiter und hielt die Luft an, als sein Gehirn mit einem Schlag sämtliche Verbindungen aufnahm:
Das war ein Gefängnis!
Es durchzuckte ihn. Er sprang zur Tür, hob seinen Arm, klopfte mit voller Wucht dagegen und rief mit lauter Stimme:
„HALLO!?“
Er lauschte. Er klopfte erneut.
„Hallo hört mich wer?! Öffnen Sie sofort die Tür! Lassen Sie mich raus! Hallo?!“.
Viel größer als der Lärm, den er beabsichtigte zu machen, war der eintretende Schmerz in seiner Hand. Es schien, als drangen sein Klopfen und die Schreie nicht nach außen. So unterließ er es, die Tür ein weiteres Mal zu traktieren. Erwin wurde unruhig.
‚Was nun? Was nun?‘
War er verhaftet worden? Hatte er Ärger mit der Polizei? War er verrückt geworden und in eine Anstalt eingeliefert worden?
Sein Blick zuckte wild umher. Er wirbelte herum und trat in der Bewegung gegen etwas. Es klackerte dumpf und Erwin beobachtete wie sich aus einem kleinen Tongefäß, das er umgestoßen hatte, Wasser über den Boden verteilte und ein rundes Stück Brot unter das Bett rollte. Wasser und Brot. Erwins entgeisterter Blick zuckte zum Waschbecken.
Kaltes Wasser!
Er wurde hibbelig. Er musste sich beruhigen. Er musste sich abkühlen. Es musste eine Erklärung geben.
Er sprang zum Waschbecken. Er griff nach dem Spiegel, der schief herunterhing, um einen Blick hinein zu werfen. Er hob ihn an und starrte erschrocken in sein Gesicht.
Bevor er aufschreien konnte, wurde mit einem Ruck und unter lautem Quietschen die Tür geöffnet. Dann ging alles sehr schnell.
Erwin‘s Schreck über das, was er im Spiegel gesehen hatte, wollte sich mit einem Schrei Luft verschaffen, blieb ihm jedoch im Hals stecken, als er erschrocken das Quietschen an der Tür vernahm, sah, wie sich selbige ruckartig öffnete und eine monströse Gestalt den Raum betrat.
Ihn durchzuckte es. Erschrocken löste sich ein neuer Schrei aus seinem Inneren, erklomm die Atemwege und stieß in der Kehle auf den Ersteren, der dort noch steckte, blieb ebenfalls hängen, verstärkte dadurch den Knoten, der Erwin im Hals saß und führte zur völligen akustischen Verstopfung.
Urplötzlich wusste Erwin Haberstett nicht mehr so Recht, weswegen er zuerst schreien sollte – wegen des Anblicks im Spiegel, dem Anblick, den die Gestalt bot, die da in der Tür stand, oder wegen beidem gleichzeitig, und beschloss stattdessen in Ohnmacht zu fallen.
**
Pünktlichkeit war eine Tugend. In der guten alten Zeit waren die Menschen noch pünktlich. Und sie ließen einen nicht warten.
Diese Lehrer heutzutage.
Es war bereits Viertel nach acht. Hausmeister Waldschmid war sich dessen ganz sicher. Er hatte seine Uhr extra noch einmal mit der Ansage im Radio verglichen. Er wusste also, dass seine Uhr nicht falsch ging und es auf die Minute Viertel nach acht Uhr am Morgen war. Er blickte auf die Tür vor sich und das Namensschild: >Haberstett<
Er warf noch einen Blick auf die Uhr.
„Nein also …“.
Hausmeister Waldschmid klingelte, ließ seinen Fuß zehnmal Wippen und klopfte. Dann lauschte er.
Nichts.
Ob er rufen sollte? Andererseits, was würden die Nachbarn denken? Er klingelte noch einmal. Er blickte wieder auf die Uhr. Er wusste, dass nicht sonderlich viel Zeit vergangen war, aber er tat es dennoch. Er klopfte erneut.
Ob er einfach einmal reingehen sollte? Er hatte ja einen Schlüssel. Und er hatte ihn seit fünf Tagen nicht gesehen. Und auch dessen war er sich sicher. Er hatte immer wieder zuerst die Uhr und dann den Hausflur überprüft. Doch nicht ein Mal kam Herr Haberstett vorüber. Und alles seit dem Lärm, nachts vor ein paar Tagen. Er war sich sicher, dass es aus dessen Wohnung gekommen war. Mehr zufällig glitt seine Hand zum Türknauf.
Es war ja sicherlich abgesperrt, deswegen erhoffte er erst gar nicht damit irgendetwas zu bewirken. Doch mit einem Klick ging die Türe auf.
„So ein Leichtsinn …“.
**
‚Oh ist mir schlecht.‘
Erwins Kopf wog eine Tonne. Seine Sinne wanderten durch seinen Körper. Er spürte seinen Atem.
Schlief er?
Ihm war schwindelig.
Er hatte grausame Bilder im Kopf. Er tastete umher, spürte feuchte Kühle und bewegte seine Glieder. Sie schmerzten. Die Schlieren vor seinen Augen klärten sich und vor ihm erschien ein weißer Kittel.
Behutsam wie eine Axt holte ihn sein dröhnender Kopf ins Bewusstsein und die Realität zurück. Erwin sprang schreiend auf sein Hinterteil.
„Ah, guten Morgen Herr Haberstett! Gut, Sie sind wach. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen? Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, aber aufgrund eines Wasserschadens sind derzeit keine anderen Zimmer zur Verfügung. Ein kleiner Unfall setzte das halbe Schloss unter Wasser.“
In der Tür stand ein kleiner, älterer Herr, mit weißen, zerzausten Haaren, Schnauzbart und großer Nase. Er trug einen weißen Kittel und strahlte Erwin an, als wollte er sagen: ‚Was für ein wunderschöner Morgen, die Sonne scheint und es gibt Pfannkuchen zum Frühstück‘.
Erwin erstarrte. Sein Blick zuckte wild umher.
Er war immer noch in diesem grässlichen Raum. Er hatte das nicht geträumt. Aber wer war …
Eine Erinnerung stach in seinen Kopf und lenkte den eben begonnenen Gedanken ab.
Seine Hände zuckten zu seinem Gesicht, zu seinem Kopf, über seinen Körper und er blickte an sich mit Panik in den Augen herab.
Seine Haare! Seine Haare waren weg!
Alle seine Haare! Auf dem Kopf, auf seinen Armen, ja nicht mal Bartstoppel besaß er und auch keine Nasenhaare mehr! Er untersuchte zuckend seinen gesamten Körper. Er war vollkommen kahl!
Sein angsterfüllter Blick sprang zu dem Mann.
„Oh keine Sorge, die Haare wachsen wieder.“, sagte der seelenruhig, warf einen Blick auf sein Klemmbrett und kam einen Schritt in den Raum hinein.
„Ich bräuchte kurz noch ein paar Angaben von Ihnen, zur Sicherheit. Sie sind Erwin Haberstett, ledig, 32, Lehrer von Beruf, Schuhgröße 43, 74 kg Körpergewicht, Augenfarbe braun, Nichtraucher, ihr letzter Zahnarztbesuch war am 30. Januar des Jahres 2022?“
Erwin starrte den Mann fassungslos an. In seiner Brust pumpte es sehr schwer und gab seiner Atmung Seitenhiebe.
„Zahnarzt?“, war alles, was er mit seinem schockierten Geist herausbrachte.
„Nur für die Statistik.“, sagte der Mann.
Die Verwirrung war komplett. Kleinhirn und Vernunft schalteten sich ab.
„Wer …?“, versuchte Erwin anzusetzen, aber sein Sprachzentrum war offensichtlich ausgefallen. Er zeigte mit einem zittrigen Finger auf den Mann.
„Oh, Verzeihung.“, meinte der und lächelte. „Mein Name ist Larazius. Dr. Quinn Larazius. Wir sind uns gestern begegnet.“
In Erwins Kopf explodierte eine große Leere Menge und spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck gekonnt wieder. Der Mann fügte schnell hinzu: „Gut möglich, dass Sie sich nicht erinnern.“
Er klemmte das Klemmbrett unter den Arm, holte einen Holzspatel hervor, und steckte ihn Erwin, ohne zu zögern, in den Mund.
„Sagen Sie mal A!“
Ehe Erwin mehr als „A“ sagen konnte, nahm der Mann Erwins Hand, fühlte mit zwei Fingern den Puls und plauderte munter weiter, als wenn all das, das Normalste der Welt wäre.
„Haben Sie sich schon etwas frisch gemacht und gestärkt?“
Erwin realisierte die Frage und grunzte. Er erinnerte sich an etwas und deutete fragend auf den Tonkrug.
„Oh ja.“
Der Mann kicherte kurz.
„Boris und Altus können leider zwischen einem Gast und einem Gefangenen, wie es früher in diesen Gemächern vorkam, nicht unterscheiden, deswegen die alte >Wasser und Brot< Tradition. Sie werden in Kürze ein angemessenes Frühstück erhalten. Die Wirkung des Partizykliniums dürfte inzwischen nachgelassen haben. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.“
Er reichte ihm eine Broschüre.
**
Kurz darauf saß Erwin Haberstett zitternd auf einem Stuhl, die Broschüre in den Händen. Der kleine Mann hatte ihn in einem anderen Raum zurückgelassen, nachdem sie durch endlose kahle Gänge mit hohen massiven Mauern gewandert waren. Er hatte sich immer wieder erschrocken umgesehen und krampfhaft versucht, die wildesten Fantasien zu unterdrücken.
Dann waren sie plötzlich hier. In einem Raum mit Holzboden und Kachelofen, und der Mann, der sich Doktor nannte, hatte ihm seine Kleidung gereicht. Die Jeans und das T-Shirt, die er noch gestern getragen hatte.
Gestern?
War heute, heute? Wo war er? Seit wann war er hier? Was um Himmelswillen war denn nur passiert?
Sein Körper zuckte nervös. Ohne weitere Erklärung war der kleine Mann verschwunden, mit dem Hinweis, er müsse sich kurz um eine Katze und eine Köchin kümmern. Er hatte noch auf das Werbeblatt gedeutet und ihm gesagt, er hätte später gerne seine Meinung dazu.
Erwin starrte auf die Broschüre. Es ergab überhaupt keinen Sinn.
„Orte und Ereignisse des 19. Jahrhunderts, die Sie gesehen haben sollten. Willkommen in der Vergangenheit!“
Ein markerschütternder Schrei schrillte durch die Wände und gab Erwin einen kalten Stoß. Sein Blick zuckte unkontrolliert hin und her.
Was ging hier nur vor sich? Wo war er nur? Er hatte schreckliche Angst und hielt es nicht mehr aus. Er musste hier weg. Er musste nach Hause. Vielleicht würde er dann eine Erklärung finden. Er stand auf, ging zur Tür, durch die der Doktor verschwunden war, schluckte nervös und zog sie knarzend auf.
Ein kühler Lufthauch wehte ihm entgegen. Er starrte auf einen düsteren, tiefen Gang. Ein dunkelroter Teppich erstreckte sich von einem Ende bis zum anderen. Dunkles Holz strahlte Schwere aus und milchige Glühbirnen spendeten nur wenig Licht. Es war gespenstisch still.
In regelmäßigen Abständen waren Türen zu sehen. Durch eine der etwas entfernteren Türen drangen dumpfe, aufgeregte Laute. Etwas fiel dort scheppernd zu Boden, dann rumpelte es. Jetzt war auch der Schrei einer Katze zu hören. Was ging dort drin nur vor sich?
Der Boden knirschte und knarzte unter seinen Füssen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. In diesem Gang war jeder Schritt zu hören. Kein Luftzug war zu spüren, keine Bewegung wahrzunehmen. Warum fühlte er sich nur so unbehaglich?
Er stoppte, als er hörte, wie etwas mit einem dumpfen Schlag gegen die Tür schlug, woher die Stimmen drangen. Das Stimmengewirr hob erneut an. Sein Blick glitt zur Seite und blieb an einem Gemälde hängen. Das Gesicht eines alten Herrn starrte ihm entgegen. Ein Mann in mittelalterlicher Montur und mit strengem Blick. Auf einem kleinen Messingschild stand:
Boleslav der Strenge
Kein typischer Name, das stand fest. Auch konnte er ihn keiner historischen Gestalt zuordnen. Erwin gruselte etwas, als er in das graue, strenge Gesicht blickte. Die schwarzen Augen wirkten wie auf ihn gerichtet, und sie schienen ihn aus einer gespenstischen Entfernung anzustarren. Es wirkte erschreckend lebensecht. Er bekam eine Gänsehaut.
Erwin tat zügig einen weiteren Schritt. Er wollte nicht weiter auf dieses Bild starren. Vor ihm tauchte ein weiteres auf. Das Messingschild verkündete:
Balduin/Sigismund der Blonde und Blaue
Erwin las es erneut. Er hatte sich nicht verlesen. Das Porträt zeigte ein etwas dämliches, männliches Gesicht, das mehr zum Lachen war als zum Fürchten. Die lange Nase und der schielende Blick wirkten, als ob der Mann eine Grimasse schnitt. Die schiefen Zähne ragten aus dem halb offenen Mund, der ein sonderbares, entrücktes Lächeln formte.
„Ein Vorfahre unseres werten Herrn Doktor.“, dröhnte plötzlich eine Stimme wie ein Gletscher hinter ihm.
Mit einem erstickten Kreischen wirbelte Erwin um die eigene Achse und presste sich mit klopfenden Herzen an die Wand. Ein Schauer lief im Zickzack seinen Rücken hoch und runter. Ihm war eiskalt, aber er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er hatte niemanden kommen gehört und dennoch stand vor ihm ein älterer, knochiger Herr im Frack, der ihn auf unangenehme Weise an das erste Porträt erinnerte. Eine hagere Gestalt mit grauen kurzen Haaren, einem schmalen, kantigen Gesicht und blutleeren, dünnen Lippen. Erwin glaubte, vor einem Gespenst zu stehen.
„Er hatte eine gespaltene Persönlichkeit …“, führte die geisterhafte Gestalt im monotonen Ton, unerschrocken weiter aus „… war bei Hofe aber sehr beliebt wegen seines Humors.“
Erwin versuchte mit der Wand zu verschmelzen.
„W… We… Wer sind Sie?“
„Ich bin Balthasar, der Oberdiener des Hauses. Dr. Larazius bat mich, ihm bei der Situation in der Küche zu helfen.“
„I… Ich… habe sie nicht kommen hören!“
„Nun, Sie waren sehr in das Bild vertieft. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich werde erwartet.“
Ohne Erwin weiter zu beachten, drehte er sich um und ging. Er bewegte sich mit langen, gleichmäßigen und absolut lautlosen Schritten auf eine Tür zu, öffnete diese und wich blitzschnell aus, als eine Untertasse vorbeischoss und auf der gegenüberliegenden Wandseite zerschellte.
„Das war sehr gut Herr, weiter rechts!“, rief eine tiefe, träge Stimme.
„hehehehe“.
„Fangen Sie dieses Viech, worauf warten Sie!“, kreischte eine schrille Frauenstimme.
„Wir müssen sie ablenken, und dann in die Irre führen!“, hörte er Dr. Larazius rufen. Eine Katze schrie. „Balthasar, schließen Sie die Tür, dass sie nicht abhaut!“
Dann fiel die Tür wieder zu.
Erwins Knie zitterten, sein Herz pochte. Wie hatte er sich erschrocken! Wie war es diesem Mann möglich gewesen, sich so an ihn heranzuschleichen? Und dann diese Ähnlichkeit mit dem gruseligen Abbild auf dem Porträt! Erwin spürte, wie ihm wieder das Gruseln kam und seine Nerven flatterten. Er vernahm ein Klirren und zuckte zusammen.
Er hatte genug.
Jetzt reichte es! Er glaubte, in einem Irrenhaus zu sein, in dem es spukte oder zumindest nicht mit rechten Dingen zuging. Er wollte es sich gar nicht ausmalen, was ihm hier noch alles zustoßen konnte. Er beschloss, sofort zu diesem Doktor zu gehen und ihn aufzufordern, ihn raus zu lassen und ihn nach Hause zu bringen. Und gefälligst wolle er eine Erklärung dafür, warum er hier festgehalten und solchen Strapazen unterzogen worden war. Er atmete tief ein und konzentrierte sich. Dann ging er mit festen Schritten entschlossen zur Tür, packte den Griff mit einer Hand, holte tief Luft und riss mit einem Ruck die Tür auf.
„HERR DOKTOR LA…!“
Doch weiter kam er nicht. Mit einem grellen Schrei sprang ihm etwas Haariges ins Gesicht. Krallen bohrten sich in seine Haut und es roch seltsam vertraut nach Katze. Vor Schreck und durch die Wucht getroffen, taumelte Erwin nach hinten. Er konnte nichts sehen. Wie von der Hornisse gestochen versuchte er, unter hektischen Bewegungen, sein Gesicht von dem haarigen Monster zu befreien. Er versuchte, das Etwas von sich zu ziehen, doch die Umklammerung wurde stärker und drückte ihm die Luft ab. Aufgeregte Rufe und Schreie wirbelten um ihn herum. Er stieß gegen einen Gegenstand, etwas Schweres fiel zu Boden und ein lautes Klirren erklang. Ein kreischendes Miauen dröhnte in seinen Ohren.
„Ich hab´ sie, Sie können loslassen!“
Etwas zog an seinem Kopf, ein Fauchen erklang und der stechende Schmerz in Erwins Gesicht wurde schlagartig stärker. Er trat auf etwas, das ihm das Gleichgewicht nahm, jemand schrie auf. Er rutschte aus und versuchte die Bewegung abzufangen. Seine Beine vollführten einen Kosakentanz, er taumelte über den Gang und prallte mit seinem Rücken, mit voller Wucht gegen die gegenüberliegende Wand. Genau an der Stelle, an der eine große Metallplatte angebracht war, die im gleichen Moment, schwungvoll, mit lautem, rostigem Quietschen nachgab. Erwin fiel in die Wand, gefolgt von einem lauten Poltern, die Klappe knallte zu und er war verschwunden.
Vom Gang aus war nur mehr das laute, metallische Poltern zu hören. Ein Katzenschrei ertönte und verlor sich langsam in der Tiefe. Sechs Augenpaare blickten stumm auf die Stelle an der Wand, wo die Metallplatte hing und sich nicht mehr rührte. Dr. Larazius unterbrach die Stille als Erstes und räusperte sich:
„Weiß jemand wo das hinführt?“
**
Ein Schatten schlich durch die tiefschwarze Finsternis, die sich in der Ecke einer verlassenen Gasse eingenistet hatte und durch den geschickten Mangel an Licht unmissverständlich zu verstehen gab, dass es hier absolut nichts zu suchen gab.
Es war eine jener städtischen Ecken, die vom Alltag und der Stadtplanung vergessen worden waren und so ihre eigene Wirklichkeit erschaffen konnten. Manche dieser Ecken entwickelten sich zu Rotlichtmilieus, andere zu verruchten Vierteln mit hoher Kriminalität, andere galten plötzlich unter Studenten als „hip“ und andere zerfielen schleichend und unaufhaltsam.
Doch diese Ecke war anders. Sie passte in kein Schema. Sie wollte auch in gar kein Schema passen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, extrem Dunkel und bedrohlich zu wirken, abstoßend und schon gar nicht anziehend oder interessant. Sie wollte, dass man sie ignorierte. Und das mit Erfolg.
Nur äußerst selten verirrte sich jemand in diesen düsteren Winkel. In der Regel war es nur ein unglückliches Versehen. Die meisten, die sich hierher verirrten, suchten schnell wieder das Weite. Wer zu lange blieb und gegebenenfalls neugierig wurde, wurde schnell selbst zum Gesuchten. Dieser Schatten jedoch, der da durch jene Dunkelheit schlich, hatte sich nicht verirrt. Er wusste, was er tat. Er scheute die Düsternis nicht. Es gab nichts, das ihn abschrecken konnte. Er bewegte sich mit solcher Zielstrebigkeit, dass die Dunkelheit selbst erschrocken zurückwich und den Weg zu ebnen versuchte. Doch es war zu spät. Der Schatten verschmolz mit ihr und war verschwunden. Eine Tür ging auf und wieder zu.
Manchmal grenzte es für ihn selbst an ein Wunder, dass er überhaupt Kundschaft hatte. Die Lage war nicht das Abschreckendste. Auch nicht der Geruch. Es war eher diese bedrückende Schwere, die nur die Abwesenheit von Leben schaffen konnte. Und das war es, was man hier fand: den Tod. Er versteckte sich hinter der Dunkelheit.
Und doch, ab und zu stand jemand in seiner Tür. Verdutzt und sichtlich nervös, aber nicht ohne Absicht. Vermutlich gab der Preis den Anstoß. Vielleicht auch dass keine Fragen gestellt wurden. Und wer schon einmal den Weg hineingeschafft hatte, wollte den Weg nicht umsonst gegangen sein.
Er blickte auf das bleiche Gesicht des Toten vor ihm. Mann, 45 Jahre, untersetzt und ungepflegt. Todesursache Herzversagen. Die offizielle Geschichte drehte sich um ein Liebesspiel und ein von Alkohol und Zigarettenrauch geschwächtes Herz. Die Frau am Tatort wirkte sehr überzeugend. Die Polizei hatte keine weiteren Fragen gehabt. Eine Obduktion wurde abgelehnt. Er war vermutlich der Einzige gewesen, der die winzige Stichwunde bemerkt hatte. Sie war geschickt durch einen Knutschfleck getarnt. Sein Gesicht verzog sich zu einem Schmunzeln und seine Finger berührte die Stelle am Hals des Mannes. Vermutlich eine Spritze. Er tippte auf Strychnin. Er nahm eine Dose Puder und betupfte die fragliche Stelle.
Es waren Details, die er wahrnahm. Kleine Details. Winzige Merkmale, die andere übersahen. Unscheinbare Aspekte, die für andere gar nicht da zu sein schienen. Das war es, was ihn so erfolgreich machte in dem, was er tat.
Nicht zwingend in seinem Beruf. Dort war es ein kurzweiliger Nebeneffekt, der ihm die Abgründe der Menschheit offenbarte. Seine Leidenschaft war es, die davon profitierte. Die Uhr schlug zur vollen Stunde. Er besaß die Fähigkeit, noch so scheinbar unwichtige und unwirkliche Aspekte wahrzunehmen und über sie Dinge in Erfahrung zu bringen, die unter der Oberfläche lagen. Die wenigsten Menschen, die auf seinem Tisch landeten, waren eines natürlichen Todes gestorben. Und den wenigsten, die sich plötzlich in misanthropischer Dunkelheit auf seiner Türschwelle wiederfanden, war daran gelegen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Er bemerkte es immer. Schuld, Verzweiflung, Rachsucht, Eifersucht, Wahnsinn. Die Menschen stanken nach den kleinen Details, die sie zu vertuschen versuchten.
Die Uhr schlug erneut zur vollen Stunde.
Es kam selten, nein, es kam eigentlich nie vor, dass er sich überraschte. Die Gewöhnlichkeit der Menschen und ihre biedere Unsicherheit war nichts, worüber man sich wundern konnte, und deren noch so düstere Geheimnisse waren für ihn nichts als offenkundige Ammenmärchen. Doch sein neuester Kunde war anders als die anderen. All das fehlte bei diesem Herrn, der plötzlich in seinen Räumlichkeiten saß.
Ja, saß. Er stand nicht. Hatte keine schuldbewusste, argwöhnische Haltung, auf der Türschwelle stehend, zwischen der vermeidlich sicheren Außen- und der unbekannten Innenwelt. Nein, er saß und er verströmte keines dieser herkömmlichen, unterdrückten Details. Nicht einmal sein schiefes Grinsen, das bisweilen noch den hart gesottensten Menschen weiche Knie bescherte, konnte diesen Kunden aus der Ruhe bringen. Und dann die Art wie er ihm einen Besuch abstattete. Natürlich war ihm die Tür aufgefallen. Ihre Position hatte sich einen Millimeter verschoben. Und ohnehin hatte es noch niemand fertig gebracht, ihn zu erschrecken. Doch dieser Mann hatte es geschafft sein Interesse zu wecken, und das war zugegebener Maßen erstaunlich.
Dass die Zeit in diesen Momenten verrücktspielte, war nur ein weiteres Indiz. Vermutlich würde es niemanden sonst auffallen. Und dann dessen Anliegen.
Nicht dass es allzu sehr vom Gewöhnlichen abwich. Auch die wenigen Worte, die er gebrauchte waren nicht ungewöhnlich. Es war mehr, wie er es sagte.
Das, was er sagte, hatte etwas Endgültiges. Wie das gesprochene Todesurteil des Richters über den Angeklagten.
Es war keine Frage, keine Bitte, es war der Ausdruck einer Tatsache. Es waren geschliffene Worte, die keinen Zweifel an ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung aufkommen ließen. Und keine Diskussion.
„Ich habe einen Auftrag für Sie.“
Doch das Bemerkenswerteste war, seine Präsenz. Gleich einer Schlange spürte man dessen Anwesenheit, ohne ihn selbst wahrgenommen zu haben.
Keine Frage, der Mann war gut. Und es kam nicht oft vor, dass er so über andere Menschen dachte. Doch er kam nicht umher ein gewisses Defizit wahrzunehmen. Es war kaum zu spüren. Mehr eine Andeutung, doch ihm entging nichts. Vielleicht war es Arroganz.
Den Worten folgte Stille. Er blickte auf seine Armbanduhr. Der Minutenzeiger zuckte für einen Moment vor und zurück. Er grinste. Denn er wusste, was als Nächstes geschah. Behutsam schloss er den Deckel, wischte sich seine Hand ab und drehte sich um.
Der Mann war verschwunden.
Er trat einen Schritt nach vorne, nahm den Umschlag, der auf seinem Schreibtisch lag und wog ihn respektvoll in seiner Hand. Darin befand sich eine schlichte Karte, auf der ebenso klare Worte geschrieben standen:
Finden Sie den OPILARGEOFILTRIERER
**
Um Erwin drehte sich indes ein Wald. Wohin er blickte, sah er Bäume. Nichts als Bäume. Seit Stunden irrte er umher. Er hatte sich hoffnungslos verlaufen. Er hatte ja auch keine Zeit gehabt, sich zu orientieren. Es ging alles so schnell. Zuerst war da der müffelnde Gerümpelhaufen, der seinen Sturz schmerzvoll abgefangen hatte. Dann das eisenbeschlagene Tor, das nachgab und über ihm zusammenstürzte. Und zuletzt die Fledermäuse.
Sie waren überall gewesen. Diese schrecklichen Biester. Sie explodierten aus der Dunkelheit, jagten ihn mitten in den Wald und ließen erst von ihm ab, als er über eine Wurzel stolperte und hart aufschlug. Und jetzt stand er hier. Zerbissen, zerkratzt, schwitzend, stinkend und er wusste nicht, wo er war.
Dieses unerträgliche Jucken. Er kratzte sich und versuchte, die Stelle zwischen den Schulterblättern zu erreichen. Wo war er nur und warum war weit und breit kein Mensch?
Das Dröhnen in seinem Kopf schien an der frischen Luft besser zu werden, dafür war ihm übel und alles tat ihm weh. Ein beißender Gestank umgab ihn. Er wollte Hilfe finden und endlich nach Hause. Er konnte an nichts anderes denken. Er verwünschte diesen Wald und wollte gerade laut aufschreien und seinem Ärger gebührend Ausdruck verleihen, als etwas in ihm gefror.
Ein Urinstinkt machte sich genau in diesem Moment in ihm breit und ließ etwas in ihm kribbeln, das anders war als die Schrecken der Stunden zuvor. Etwas in ihm erinnerte sich lang vergessener Zeiten, als die Menschen noch den Naturgewalten und mit Reißzähnen bewaffneten Biestern gegenüberstanden. Und dann hörte er das grummelnde Brummen, das aus einer dicken, pelzigen Bauchhöhle an scharfen Reißzähnen vorbei den Weg durch den Wald an Erwins Ohr fand.
Ohne dass er es wollte, drehte sich Erwin schwungvoll um die eigene Achse und verlor sämtliche Gesichtsfarbe. In einiger Entfernung bewegte sich ein dunkler, brauner Schatten und gewann in Erwins Gehirn die deutlichen Konturen eines Tieres, dass er bislang nur aus sicherer Entfernung in Tierparks bewundert hatte. Erwin schluckte einmal kurz und während sein Gehirn zwischen panischem Schreien und einem Heulkrampf hin und her überlegte, rannten seine Beine einfach los. Erwin versuchte, schneller als sein Schatten zu sein, und blickte sich nur einmal kurz im Rennen um, nur um zu sehen, wie hinter ihm in den Wald Bewegung kam. Etwas brüllte dort äußerst verärgert.
Dann sprang Erwin über eine Wurzel, zerriss sich an einem Strauch die Hose, schrie kurz auf und knallte dumpf mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Er verlor das Gleichgewicht, bekam etwas zu fassen, hörte noch wie ein eigenartiges, vehementes Summen anhob und erkannte im Fallen die klebrigen Teile eines Bienenstocks, die er plötzlich in den Händen hielt. Es grenzte an ein Wunder wie schnell Erwin trotz der klebrigen Masse in seinem Gesicht und an seinen Händen wieder auf die Beine kam. Das näherkommende Brüllen und das lauter werdende Summen hatten etwas ungeheuer Motivierendes. Die Menschen in alten Zeiten mussten wahnsinnig viel gerannt sein. Vielleicht wurden sie deshalb nicht alt.
Erwin blieb nicht mal mehr Zeit zu schreien. Er rannte und wusste nicht wohin, bis er ein drittes Geräusch vernahm. Vor ihm rauschte es. Erwin vernahm es plötzlich und blieb für eine Sekunde gedanklich stehen. Da war ein Bach oder ein Fluss, und der würde früher oder später in irgendeine Ortschaft führen und vor allem weg von den Gefahren des Waldes.
Erwin hechtete mit einem Satz vorwärts und kurz darauf sah er es. Doch seine Vorfreude wich schlagartig einer zittrigen Schockstarre und er blieb abrupt stehen.
Vor ihm ragte eine klapprige Hängebrücke über einen steilen Abgrund, und in der Tiefe rauschte der eben noch so hoffnungsvoll säuselnde und nun deutlich reißende Strom. Es gab nur diesen Weg. Er führte über die Brücke und auf der anderen Seite den Strom weiter flussabwärts. Erwin schluckte. Er musste dort rüber. Er musste dem Fluss folgen. Es war das einzig Logische, was er tun konnte. Hinter ihm warteten eine Bestie und ein Schwarm zorniger Bienen. Es blieb keine Zeit zu überlegen. Er musste jetzt handeln. Er musste etwas unternehmen. Dabei wollte er doch nur nach Hause. Mit zittrigen Armen berührte er die Brücke. Soweit er es überblicken konnte, war sie stabil.
Er setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Planke. Es knarzte bedrohlich und Erwin verwünschte den Tag. Dann knackte es, aber es war nicht die Brücke, es war hinter ihm und Erwin wusste, was es war. Er rannte mit einem Mal los.
Die Planken hielten. In Erwin keimte Freude. Sie knarzten, doch sie hielten, und bestimmt würde ein Bär nicht über eine Hängebrücke kriechen.
Verkrampft hielt er sich an den Seilen, brachte so schnell wie möglich einen zittrigen Fuß vor den Nächsten und blickte sich für eine Sekunde mit pochendem Herzen um. Dann knackte es – diesmal unter ihm.
**
Doktor Larazius und seine Truppe starrten auf die Stelle, an der ein mal ein gewaltiges, eisenbeschlagenes Tor gewesen war. Jemand hatte es mit großer Wucht zertrümmert. Von diesem jemand und von Erwin Haberstett war aber weit und breit keine Spur. Um sie herum lag Gerümpel verstreut.
„Ich fürchte, das Partizyklinium war doch etwas zu stark.“, ließ sich der Doktor vernehmen. „Lasst uns lieber ranhalten, nicht dass er noch den Dorfbewohnern über den Weg läuft. Das könnte ins Auge gehen.“
**