Bittersüßer Nebel

Komm, du mein grauer Freund. Komm, und krieche in mein Hirn, mein Herz. Zart, fast zärtlich, füllst du mich aus. Dringst mir in die letzte Pore.

Meine Augen, unbewegt, die Lider halb geschlossen, lässt du nach innen schau’n. In sich selbst versunken, nehmen sie nur Reflexe meiner Umwelt auf. Der Überlebenswille ist am Rande noch vorhanden, bei wirklicher Gefahr weckt er mich auf.

Die Ohren taub, sie wollen jetzt nichts hören. Keine Musik, die alles nur noch schlimmer macht. Denn wenn, dann wäre mir nach Moll. Dunkle, traurige Lieder. Nein, besser nicht.

Mein Körper fragt nicht nach Bewegung. Ich liege gut. Kurz denke ich, möge er in Frieden ruh’n. Aber ich brauch’ ihn noch. Diese beängstigende Ewigkeit, dieses unendliche Universum – dafür bin ich noch nicht bereit.

Wie süß empfind’ ich deine dunklen Schwingen, auf denen du meine Gedanken trägst. Abgedunkelte Bilder, zart-schmerzende Erinnerungen, die am Herzen zieh’n. So vieles ging uns schon verloren, woran es hing. Liebe, die nur noch in mir existiert. Die ich nicht lassen kann, zu der ich immer wieder flieh’.

Namen, die mir einst die Welt bedeuteten. Wie lang’ erinnert man sie noch? Erinnerung ist für die Großen, die Guten wie die Schlechten. Ihnen werden Denkmäler erbaut. Euch bleibt nur die Kathedrale meines Herzens. Mit meinem Leben, meiner Liebe, bleibt ihr mir erhalten.
Ein paar Photos, noch immer nicht sortiert, geschweige denn beschriftet. Zu groß der Schmerz, zu überwältigend. Wozu sie nochmal anseh’n. Nur, um mich selbst zu quälen?

Aus der Weite meines Inneren nehme ich am Rand eine Bewegung wahr. Ein Schmetterling gaukelt da vor meinem Fenster. Es ist, als rufe er mir lautlos etwas zu. Hallo, denke ich.
Du kleiner Freund. Wie schön du bist.

Die Augen, einmal abgelenkt, sehen wieder.
Ich erhebe mich mühsam. Bis bald, du meine Melancholie.

Vielleicht versuche ich es heute mal mit duschen.

13 „Gefällt mir“

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Bin berührt und erstaunt. :pray::purple_heart:

1 „Gefällt mir“

Das hat mich gepackt, sehr sensibel erzählt!

2 „Gefällt mir“

Es ist tatsächlich kein leichtes Thema und daher freut es mich um so mehr, wenn es Jemanden erreicht. Ich danke euch.

1 „Gefällt mir“

Ein wirklich schöner, intimer Text, danke fürs Schreiben, aber vor allem fürs Teilen. Ich bin hin und her, wie ich den Text für mich interpretiere. Nicht die Grundstimmung/-aussage, mehr die Details. In meiner Interpretation habe ich zwei Bilder in Kopf und ich kann mich zwischen ihnen nicht entscheiden: Ich lese es weiblich (gibt aber keinen Hinweis drauf, könnte auch männlich sein, ich denke, das spielt keine Rolle) und lese entweder eine junge Frau mit chronischer Depression (oder depressiven Episoden), die sich immer mehr in die Isolation zurückzieht. Vielleicht schafft sie es heute (grad der letzte Satz ist für mich von einer eher „jünger“ und nicht „älter“, von der Tonalität). Oder ich lese eine ältere Frau, die ihre Liebsten verloren hat und darüber trauert (so stark, dass sie immer weniger auf sich schaut/immer mehr isoliert). Aber jetzt, während ich so schreibe, ist es für mich glaub ich doch eher eine Frau zwischen 25-35, die zur Melancholie tendiert, Verlust von geliebten Menschen hat sie nun sogar in depressive Episode gestürzt. Interpretationen sind den Lesenden ja immer frei, aber mich würde sehr interessieren, was für eine Figur du beim Schreiben vor Augen hattest… so oder so - ein wirklich schöner Text, der bewegt und der berührt. Danke dir!

2 „Gefällt mir“

Du musst dich nicht entscheiden. Es ist sowohl vom Geschlecht als auch vom Alter unabhängig. Und zum Glück keine Depression. Allerhöchstens die depressive Phase einer manisch-depressiven Person. Aber dafür ist es nicht stark genug.

Tatsächlich ist es Melancholie, die dem Leben ein unterschwellig immer vorhandenes Moll verleiht. In Momenten, wie dem oben, überkommt sie einem, taucht alles in dieses beschriebene Gefühl. Aber, im Unterschied zur wirklichen Depression, kommt man da verhältnismäßig leicht wieder raus. Ein paar Stunden, Tage leiden, doch dann genügt oft einfach ein Schmetterling.

Den Ausdruck „… die dem Leben (…) ein vorhandenes Moll verleiht“ merk ich mir. Und die Tatsache, dass nach solchen bitter(süßen) Zuständen manchmal ein Schmetterling genügt, um das Grau zu vertreiben, ist auch sehr schön festgehalten.

1 „Gefällt mir“

Dieser bittersüße Nebel - perfekt beschrieben - ist in der Tat ein warmes, entspannendes Vollbad für die Seele. Enorm hilfreich bei eigentlich allen Kümmernissen des Lebens und richtig angewendet ein gutes Mittel gegen Depressionen. Man darf nur nicht aufs Duschen vergessen, sonst verliert man sich. Und genau das beschreibst Du. Gefällt mir sehr, sehr gut.

2 „Gefällt mir“

Ich habe das mit dem Leben in Moll auch früher schon hier und da versucht zu vergegenständlichen. Hier z.B. in einem, hmm, ich nenne es mal Zweigedicht, oder Unter-Leben.

4 „Gefällt mir“

Puh es ist ergreifend und löst in mir einen Kloß aus. Einen Kloß so groß, wie einen Apfel, der mir fast die Kehle zu schnürt, weil ich an vergangene Zeiten denken muss, in denen diese Düsterheit in meinem Umfeld war. Die nur schwer zu vertreiben war und du so vielen Leuten da draußen aus der Seele sprichst/schreibst.

Ein sehr bewegendes Thema, dass vielen die Kraft raubt und den Lebenswillen fast ganz betäubt. Von einem Tag auf den anderen fällt ihnen alles schwer. Sachen, die sie vorher liebten, die ihnen Spaß machten, berühren nicht mehr ihr Herz. Denn das Herz verwandelt sich in einen dunklen und schwerfälligen Brocken.

Umso schöner finde ich deinen letzten Satz. Denn der gibt endlich wieder Hoffnung aufs Leben. Auf sich achten und sich dem Alltag zu stellen. Ein wichtiges Thema, dass man die Leute für sensibilisieren sollte.
Danke für diese Intimen Einblicke in diese angeschlagene Seele.

Nach Dunkelheit kommt auch wieder das Licht. Also niemals die Hoffnung aufgeben. :muscle:

4 „Gefällt mir“

Ja, ich habe auch im Umfeld Menschen mit Depressionen erlebt und bin da um so froher, dass es „nur“ Melancholie ist. Wirkliche Depression wage ich mir garnicht vorzustellen.

1 „Gefällt mir“

So schön in Worte gefasst, Pauli!

1 „Gefällt mir“

Oh Anachronica, was für ein wunderschöner Text! Trifft mich bis ins Innerste. Danke, dass du ihn mit uns teilst.

1 „Gefällt mir“

Vielen Dank CarrieHope. Aber ich wollte nicht von Anachronicas Text ablenken. Es hat mich nur so berührt und da musste es raus. Auch deine Worte waren so tiefsinnig. Diese Zerrissenheit, hatte ich auch während des Lesens teilweise gefühlt.

1 „Gefällt mir“

Danke für diesen wundervollen Text. Ab jetzt werde ich immer auf Schmetterlinge und Duschen achten… :slight_smile:

1 „Gefällt mir“

Danke, Miki. Pass auf dich auf. :slightly_smiling_face:

1 „Gefällt mir“

Ich freue mich arg, dass ihr ihn so gut aufnehmt. Solche Gefühle zu beschreiben ist fast so schwer, wie darin versunken sein.

1 „Gefällt mir“

@Pauli @CarrieHope Ihr könnt euch gerne hier darüber austauschen. Es geht um das Thema und wenn mein Text da hilft, ist das gut.

1 „Gefällt mir“

@Anachronica das liegt einfach an deinem Sprachtalent. Du kitzelst in einem die Emotionen heraus. Ob man will oder nicht. Also bitte, mach ja weiter so. :hugs:

1 „Gefällt mir“