Liebe Schreiberlinge, bin mir nicht sicher, ob ich mit meinem Buchthema hier richtig bin. Es ist kein Roman, noch nicht mal ein Sachbuch. Schlimmer: Es ist ein Ratgeber – und dann noch einer über Trauer um das geliebte Haustier. Egal, einen Versuch ist wert. Das Buch, das ich gerne gelesen hätte, als mein Pferd starb, konnte ich nirgends finden. Vielleicht geht es anderen genauso? Also schreib ich es selbst. 2/3 sind fertig. Hier ein Beispiel-Kapitel. Kommt da was bei euch an?
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Ein Wunder, das wehtut
Was, wenn der Tod nichts Böses will?
Kurzer Schwanz, krumme Beine: Diese Katze ist keine Schönheit. Ihr Kopf ist zu klein für den rundlichen Körper, der unter dem flauschigen Fell kaum auszumachen ist. Sie sieht aus wie ein schwarzes Kaninchen ohne Ohren – wir geben ihr den Namen Stummel. Ihre Augen haben nichts Geheimnisvolles. Groß und kreisrund wie die Scheinwerfer eines Oldtimers verleihen sie ihrem Gesicht immer einen erschrockenen Ausdruck. Weil ihr ein paar Zähne fehlen, rutscht die Zunge seitlich aus dem Mund. Damals sind vier Streuner auf unserer Veranda zuhause. Sie ist die Einzige, die scheu bleibt. Es gibt eine Stelle am Rücken, die ich kraulen darf, aber nur kurz. Ich habe eine Lieblingskatze, eine zweite und eine dritte – ganz zum Schluss kommt Stummel. Sie ist einfach da – leise und selbstverständlich. Dass sie schon vierzehn Jahre bei uns lebt, kann ich kaum glauben.
Am liebsten arbeite ich am Esstisch. Von dort aus sehe ich durch die Verandatür in den Garten. Schon seit über einer Stunde sitzt Stummel auf der Fußmatte und schaut mich an, als wollte sie mich hypnotisieren. Ihr Interesse an mir ist mehr als ungewöhnlich. Haben die anderen ihre Portion gefressen? Ich stelle etwas raus – sie rührt es nicht an. Am nächsten Tag das Gleiche. Während die restliche Katzenfamilie unterwegs ist, blickt sie mich reglos an. Am dritten Tag achte ich darauf: Sie trinkt und frisst nicht mehr. Wieder hockt sie unbeweglich wie ein Plüschtier hinter dem Glas. Ich sehe an meinem Bildschirm vorbei in ihre gelben Augen. Und endlich verstehe ich! Sofort klappe ich den Computer zu, öffne die Türe und setze mich vorsichtig neben sie auf den Boden. „Stummelchen, es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Es macht nichts, dass du nie schmusen wolltest. Ich hab dich sehr lieb. Vielen Dank, dass du auf mich gewartet hast.“
Ich darf ihren kleinen Kopf streicheln. Er fühlt sich an, als wäre er aus Porzellan. Verborgen unter ihrem voluminösen Fell ist sie dünn geworden. Ihr Reich zeigt sich von seiner schönsten Seite. Ein sonniger Tag, die Wiese blüht, die Vögel stimmen ihre Instrumente. Wir sitzen noch eine Weile zusammen und betrachten ihre Welt. Dann will sie los, als wüsste sie genau wohin. Ich schaue ihr nach, wie sie zu dem Lebensbaum geht und unter den tiefen, dichten Ästen verschwindet. Dort auf dem Teppich aus trockenen Nadeln ist ihr Lieblingsplatz. Gute Reise, Stummelchen. Ich weiß, ich werde sie nie wiedersehen.
Niemand bezweifelt, dass die Entstehung von Leben eines der größten Wunder überhaupt ist. Zwei Zellen vereinen sich. Was nur unter dem Mikroskop zu erkennen ist, enthält bereits alle Informationen über Gattung, Art, Geschlecht, Intelligenz, Persönlichkeit und Lebensdauer, um etwas Neues zu erschaffen. Wie aus dem Nichts entsteht ein einzigartiges Wesen.
Was beim Tod geschieht, ist genauso unfassbar: Alle Erinnerungen, alles Erlernte, ein einmaliger Charakter, ein ganzes Leben wird mit einem Fingerschnippen ausgelöscht. Zurück bleibt nur der Körper, so leblos wie ein Stein. Jeder empfindet den Tod als furchtbar, zu früh, ungerecht und grausam. Ein Wunder ist er trotzdem.
Gerade wenn man mit Liebe und Trauer zu kämpfen hat, lohnt es sich, Fragen zu stellen. Denn in schweren Zeiten fallen die Antworten oft anders aus als erwartet. Als hätte unser Denken jetzt Zugang zu einer geheimnisvollen Bibliothek, die sonst verschlossen ist. Auf der verzweifelten Suche nach Erklärungen stößt man auf Antworten, die überraschen – auf Lösungen, an die man gar nicht gedacht hatte. Und vielleicht kommt man zu dem Schluss, dass beide Wunder – Leben und Tod – aus derselben Werkstatt stammen. Albert Einstein soll gesagt haben: „Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.“
Wenn das Schicksal einen guten Tag hat, wenn weder ein Unfall noch Krankheit ein Leben brutal beenden, kann man erfahren, wie das eigentlich gemeint ist – das mit dem Sterben. Ein Tier spürt, wann sein Leben zu Ende geht. Es verlangt nicht mehr nach Nahrung, Wasser und Bewegung. Vertrauensvoll lässt es los, ohne sich gegen die Natur zu wehren. Im Gegenteil: Es tut alles, um ihr den Weg zu ebnen. Der Tod ist kein Fehler, sondern Teil eines Kreislaufs. Ein Tier kämpft nicht dagegen an, sondern öffnet ihm ohne Angst die Tür.
Der Tod kann liebevoll sein – auch wenn er dazu selten Gelegenheit hat. Er kann sogar höflich warten, wenn ein Abschied noch nicht möglich war. Stummel wollte nicht gehen, bevor ich verstanden hatte, warum sie uns verlässt. Wo sie ist, wenn sie nicht wiederkommt. Ich habe sie eingerollt auf ihrem Schlafplatz unter dem Lebensbaum gefunden und dort unter den Nadeln begraben. Ein Wunder hatte ein anderes beendet.