Augen verborgen
Ich spüre ihre Hand. Warm und weich. Sie hat nicht viel, sie hat nur mich.
Wir können kaum leben. Aber sie gibt.
Ihre Hände sind großzügig. Ihr Korb ist voll mit dem Besten unserer Ernte. Sie wäscht die Gurken ab und poliert die erdigen Kartoffeln. Sie füllt einen Topf mit salzigem Wasser und legt Gemüse ein. Sie kocht für die, die keine Zähne mehr haben. Dann legt sie ein Tuch auf den Korb, so dass keiner die Feldfrüchte sieht.
Nach einer Weile - in der ihr Arm in meinem ruht - und sie mich durch die Gassen führt, bleibt sie stehen.
Wie so oft. Kurz, unauffällig.
Ihre Barmherzigkeit wirft warme Muster an meinen dunklen Schleier. Und so bleibe ich geborgen durch ihre Stärke und Sicherheit.
Nie hat sie aufgehört, meine Hand zu halten. Keine einzige Nacht. Sie hat die Narben gepflegt und warme Packungen auf meine Augen gelegt, weil sie hoffte, dass das Licht zurückkommen würde.
Sie führt mich wohl zum Jahrmarkt ganz hinten in der Stadt.
Schon jetzt schwelge ich in den Gerüchen. Ich kann sie einordnen und in mir verknüpfen und ein Band daraus drehen. Ich lasse mich umspielen und sortiere Farben. Auch wenn ich sie mir nur vorstellen kann, ich platziere sie strategisch auf Gedankenstützen, immer weiter übereinander, sodass ich von ihnen zehren kann. Eine Anhäufung von Momenten, Gefühlen, Gerüchen. Lichtblitze, die über meine leeren Augen fliegen. Ich fühle es in einer leisen Sphäre, von Mensch zu Mensch.
Der Atem der Massen verteilt sich flüchtig um mich herum. Ich nehme ihn wahr, den Geschmack des Lebens, des Konsumierens, merke die Anwesenheit der Menschentrauben und spüre, dass die Gemüter sich ändern von Person zu Person, von Schicksal zu Schicksal.
Sie weiß, was sie tut.
Voller Vertrauen gebe ich mich ihr hin. Sie wird mich niemals loslassen.
Unter meinen Füßen raschelt es. Ich trete wohl auf Pappe und abgekautes Süßholz. Der Leierkasten aus der Ferne kommt näher. Er sprudelt fleißig Töne in die Luft, wie ein Wirbel nehme ich sie wahr. Eine Immer wiederkehrende Melodie. Es scheint mir, als drehe der betagte Mann das alte Rad unablässig um ein paar Münzen für seinen kaputten Arm zu erbitten, denn er dreht und dreht schon seit Jahren und kann es sich nicht leisten, damit aufzuhören.
Jeder leise Ton, alles Aufbrausende, die Windwirbel des rasenden Karussells. Stimmen, Jauchzen.
Sie ist da.
Ich weiß, sie wird kurz am Leierkasten verweilen und in ihren Korb greifen. Die alte Frau, die ich bemerke - schwach und dankbar - in ihrer Stimme der Schmerz und die Scham, weil sie nicht wagt zu bitten. Das so offensichtliche Zittern ihrer Hände, so unkontrolliert und liebenswert, dass ich es spüren kann. Wie Reize in der Luft spüre ich die Vibration.
Es erweicht ihr Herz. Sie ist da.
Das Tuch raschelt etwas als sie ihre Hände füllt, dann gehen wir weiter.
Ich nehme wahr, wie sie immer wieder kurz anhält. Ich spüre den Mangel derer, für die sie in verstohlenen Momenten etwas aus dem Korb nimmt.
Fast spüre ich, wie die Gesichter überzogen sind mit Staub und Schweiß, festgebacken vom Leben und es bricht, wenn sie gibt. Fast höre ich es knacksen, wenn sich die Mienen aufhellen und die Schicht abbröselt - in winzigen Fragmenten von ihren Gesichtern.
Gerade hier hält sie an. Das sind Menschen, für die sie im Garten schuftet. Und in verstohlenen Momenten gibt sie eine polierte Kartoffel und eine saubere Gurke und drei Radieschen.
Neben mir fliegt eine Gondel vorbei, ihr Wind trifft mich ins Gesicht. Sie nimmt mich zur Seite und streift liebevoll das Konfetti weg, das auf meiner Nase gelandet ist. Ihre Hand liegt in meinem Rücken und richtet mich wieder auf, die andere fährt beruhigend über meine Schulter und bleibt dort für ein paar warme, zärtliche Sekunden.
Zuhause köchelt noch der große Topf, auf der Ablage werden noch Schalen, Gehäuse und Kerne liegen. Und ich weiß wir kommen wieder. Immer. Und ich weiß, neben der Spüle liegt ihre Bürste um das Gemüse zu putzen und ein Tuch zum Polieren der Kartoffeln. Denn was sie gibt, gibt sie von Herzen.