Ein Drama in vier Akten. Oder 4711.
Montag, die Motivation sitzt. Unklar ist nur, wo genau sie gerade sitzt, denn offensichtlich ist es nicht da, wo Anna gerade ihr Hinterteil platziert hat: am Schreibtisch. Voller Tatendrang, die Woche ist jung, die mit voller Absicht nicht schriftlich festgehaltene Aufgabenliste lang.
Anna hat diese Woche Urlaub, perfekt also, um endlich an dem Roman zu arbeiten, der schon längst im Lektorat sein sollte, schließlich gibt es ein Enddatum für die Fertigstellung.
Doch Anna hat sich zu viel ablenken lassen. Wobei man das ja nicht so nennt, wenn man Autorin ist und ein wenig Geld damit verdient, so viel Geld auszugeben, um sich so nennen zu dürfen. Anna prokrastiniert, so nennt man das heutzutage in Fachkreisen.
Und schon wieder war sie da, die Ablenkung. Anna konnte sich gerade noch rechtzeitig einfangen, um nicht weiter über Fachkreise, Geld und Prokrastination nachzudenken. Sondern stattdessen wird der Laptop aufgeklappt mit dem Vorsatz, zuerst den lange überfälligen Papierkram zu erledigen. Da muss ein OP-Bericht angefordert werden, den Anna in ihrer Ablage nicht finden kann und außerdem muss sie etwas bei der Versicherung anfragen.
Also los, der Laptop ist ja schon aufgeklappt. Und zeigt gleich den Sperrbildschirm mit dem neuen Familienbild, den Anna am Samstag eingestellt hat. Sieht wunderbar aus, wie niemand – aber auch wirklich überhaupt niemand – in Richtung der Kamera schaut. Anna selbst schaut in ihr Handy auf dem Bild, aber immerhin hat sie damit die Kamera gesteuert. Und nachher das Bild bei einem Messenger in den Status gestellt mit dem Hinweis, dies sei das perfekte Bild für den Familienkalender. Was zu einer Diskussion mit ihrer Mutter führte, immerhin schaut niemand in die Kamera und die Hunde sind auch auf dem Bild. Was sie denn bitte mit der Familie zu tun hätten.
»Alles«, war das einzige, was Anna dazu geschrieben hat und jetzt könnte sie sich schon wieder aufregen. Immerhin ist Montag, sie hat eine ellenlange (warum eigentlich nicht speichenlange?) Aufgabenliste und die Zeit fließt nur so dahin.
Trotzdem kann sie nicht anders, als den Sperrbildschirm zu fotografieren und als Status einzustellen. Mit dem passiv-aggressiven Hinweis, dass diese Familie super als Sperrbildschirm taugt, immerhin wird Arbeit sehr bewusst vermieden.
Status fertig, einloggen in den Laptop, Mailprogramm starten. Aber halt, Anna hat noch gar nicht die Mailadressen, die sie braucht.
Also verlassen die Finger die Tastatur wieder und Anna kramt in einer der sieben Schubladen nach dem Adressbuch. Immerhin hat sie direkt die richtige Schublade getroffen. Ungünstig ist allerdings, dass sich darin auch mehrere angefangene Notizbücher finden. Anna überlegt schon, eines davon herauszunehmen und ihre Aufgabenliste doch schriftlich festzuhalten. Vielleicht hilft das ja als Motivation, die Aufgaben schneller zu erledigen.
»Nein«, ermahnt sie sich selbst laut, was die Hunde aufschrecken lässt. Waren sie gemeint? Aber solang Frauchen am Schreibtisch sitzt, sind sie nie gemeint, außer es heißt »Gassi«. Dann sind sie sofort wach und bereit und auf dem Weg nach unten.
Dahin wäre Anna auch gern unterwegs. Unten ist die Küche, da gibt es Kaffee. Und Tee. Und Lebkuchenherzen. Darauf hätte Anna jetzt viel mehr Lust, als am Schreibtisch zu sitzen.
Moment, da war was. Der Papierkram muss endlich erledigt werden. Also erst das und dann einen Kaffee.
Anna wendet sich also erneut dem Laptop zu, schlägt die Seite im Adressbuch auf, wo sie die Mailadresse der Versicherung findet und macht sich daran, den Text zu formieren. Sie hat kaum den Betreff fertig, als die Tür des Pumakäfigs aufgeht und der Teenager ein müdes »Hallo« nach oben krächzt.
Also damit wir uns richtig verstehen: Hinter der Tür haust nicht wirklich ein Puma, sondern nur der Teenager. Aber wer schonmal mit männlichen Teenagern in einem gewissen Alter zusammengewohnt hat, der weiß, dass die noch so oft duschen und das Zimmer putzen können, es bleibt immer eine leichte Pumanote, die vor allem morgens besonders deutlich zu vernehmen ist.
Der Puma, äh, der Teenager fragt, ob Anna schon gefrühstückt hat. »Ja.« Ob Anna noch einen Kaffee will? »Nein, ich muss Papierkram machen.«
»Ach so. Stirbt Ingeborg heute endlich?«
Anna atmet tief durch, das kann sie jetzt nicht gebrauchen. »Bestimmt, aber erst muss ich …« Und schon beginnt sie, die Aufgabenliste aufzuzählen. Dann hätte sie die auch gleich aufschreiben können, immerhin fallen ihr jetzt noch viel mehr Dinge ein, die sie dringend erledigen muss.
Der Teenager quittiert den Sermon nur mit einem »Aha« und verschwindet im Bad. Das Anna übrigens noch putzen muss, sie ist diese Woche dran.
»Aber erst die Versicherung«, ermahnt sie sich und wendet sich erneut dem Laptop zu. Während ihre Finger drucklos auf die Tastatur klimpern, weil sie versucht, den richtigen Wortlaut zu finden, gleitet ihr Blick wie immer nach links. Nur um die Kiste mit dem Spielzeug zu sehen, die sie schon längst auf einer Verkaufsplattform einstellen wollte. Und die Hundehütte aus Stoff, die leider viel zu klein ist und deswegen nicht genutzt wird. Und die Unterbettkommoden, in denen …
»STOPP!« Anna muss ich selbst laut bremsen. Schon wieder macht ihr Hirn alles, außer sich der eigentlichen Aufgabe zuzuwenden. Vielleicht hilft es, einen Schluck zu trinken, sie hat sich extra etwas fertig gemacht.
Eine Flasche mit klarem Protein, immerhin nimmt sie davon zu wenig zu sich. Dummerweise ist sie es gewohnt, um die Zeit an diesem Schreibtisch (sie hat noch einen zweiten), immer eine Kanne Tee neben sich stehen zu haben. Was um Längen besser schmeckt als diese Proteinzeug. Aber jetzt hat sie es erstens gekauft und zweitens neben sich stehen, also nimmt sie einen Schluck.
Nein, warmer Tee wäre jetzt wirklich besser.
Vielleicht hilft es, die Mütze anzuziehen, die hier liegt, damit sie repariert wird? Vielleicht wird der Kopf dann warm und kann sich besser auf die Aufgabe konzentrieren, die eigentlich erledigt werden sollte? Noch besser hilft bestimmt, wenn die Duftkerze angezündet wird.
Also öffnet Anna die erste der sieben Schubladen, um das Feuerzeug zu entnehmen, um die Kerze anzuzünden. Aber da ist kein Feuerzeug, wo es sein sollte.
Richtig, fällt ihr ein, das liegt neben dem Drucker neben dem anderen Schreibtisch. Also steht Anna auf, geht zum anderen Schreibtisch und sieht das Chaos darauf. Das Chaos aus offenen Aufgaben.
Der DVD-Spieler, der nicht mehr gebraucht wird. Die Pakete mit den Geburtstagsgeschenken, die noch eingepackt werden müssen. Das Paket mit den Bastelsachen für den Flohmarkt des Tierschutzvereines, die noch fertig gestellt werden wollen. Und …
Anna entfährt ein tiefes Seufzen. Sie greift nach dem Feuerzeug, schlurft zurück vor ihren Laptop, sucht die passende Haltung für Hinterteil und Rücken, entzündet die Kerzen, trinkt einen Schluck, setzt die Mütze auf und … öffnet Papyrus, um diesen Text zu schreiben und ins Forum zu stellen.
Man soll ja schreiben, um ans Schreiben zu kommen.
Vielleicht hilft das ja.
Fortsetzung folgt. Oder auch nicht. Man weiß ja nie, was noch alles so prokrastiniert werden muss.