Hier kommt die 13. Adventskalendergeschichte (13.12.2025):
Lost and Found
Nur leise drangen die Geräusche des Alltags in den kleinen Laden. Er lag am Ende der Einkaufsstraße, eingeklemmt zwischen einem Optiker und einer Bäckerei. Keine echte Bäckerei. Nein, es war eine dieser großen Ketten, in denen Backwaren nur fertig gebacken und nicht, wie früher, von Hand frisch hergestellt wurden. Er mochte das Zeug nicht, das sie dort verkauften. Es schmeckte nach Nichts und Chemie. Es weckte keine Erinnerungen.
Erinnerungen – sein Laden war voll davon. Seit er denken konnte, war das seine Welt gewesen. Heute führte er selbst den kleinen Antiquitätenladen seines Vaters weiter. Als Kind war der Laden für ihn ein Hort von Geschichten und Legenden gewesen. Anfassen durfte er sie nicht, aber der Ritter, dem die alte Rüstung hinten in der Ecke gehörte, hatte in seiner Fantasie viele Abenteuer mit ihm durchgestanden. Und wenn der keine Lust hatte, wandte er sich an den Cowboy, dessen Hut vergessen an einem Haken an der Wand hing. Im Laufe der Zeit waren diese Geschichten der wahren Geschichte gewichen. Zahlen, Daten, Fakten – alle mit Preisen versehen.
Bald war Weihnachten. Die Straßenbeleuchtung, die kurz vor seinem Geschäft endete, konnte er gerade noch sehen, wenn er sich in eine Ecke des Ladens stellte und von dort aus schräg nach draußen sah. Zwei Sterne mit Schweif, die sich am höchsten Punkt der über die Straße gespannten Konstruktion fast trafen. Bei beiden Sternen gingen einige Lichter nicht mehr. Sie flackerten unruhig oder waren ganz aus. Keiner schien ein Interesse daran zu haben, sie zu reparieren. Er ging zurück zu dem Stuhl hinter dem Tresen, setzte sich und wartete. Er war gut im Warten, er tat es sein ganzes Leben lang schon.
Das Glöckchen über der Tür bimmelte sanft, als diese vorsichtig aufgeschoben wurde. Eine junge Frau trat ein, eingemummelt in ihre Jacke und einen riesigen Schal, der kaum ihr Gesicht freigab. Nur ihre Augen waren zu sehen. Stumpf, traurig und irgendwie verloren. Sie streifte durch den Laden, vorbei an den dunklen Holzregalen und den vielen Tischen, auf denen sich alle möglichen Gegenstände den Platz streitig machten.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er.
„Ich weiß nicht.“ antwortete sie leise.
„Was suchen Sie denn?“
„Ich weiß nicht.“
„Soll es ein Geschenk sein?“
„Ich weiß nicht.“
„Für wen suchen Sie denn etwas?“
„Ich weiß nicht.“
Er ließ sie in Ruhe und sie ging weiter ziellos durch den Laden. Berührte Dinge, hob sie zur genaueren Betrachtung hoch, stellte sie wieder hin. Er mochte es nicht so gerne, wenn Leute nur alles anfassten und nichts kauften.
„Finden Sie nicht, was Sie suchen?“ setzte er erneut an.
„Ich weiß nicht“
„Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie suchen.“
„Ich weiß.“
Immerhin gab es Varianten in ihrer Antwort.
„Ich glaube, ich habe etwas verloren.“
Er horchte auf. „Und das hoffen Sie hier wieder zu finden?“
„Ich weiß nicht.“
„Meine Waren sind alle sehr alt. Älter als Sie, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Ich glaube nicht, dass ich habe, was Sie suchen.“ Er schickte Kunden nur ungern weg, aber das hier erschien ihm aussichtslos.
Wieder klingelte das Glöckchen über der Tür. Energischer diesmal und eine weitere Frau trat zusammen mit einem kleinen Kind ein. Suchend blickte sie sich um, trat schließlich auf ihn zu.
„Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für meinen Vater. Er war früher Matrose und auf allen Weltmeeren zuhause.“
„Ich habe alte Sextanten hier. Oder diese alten Holzblöcke für das Tauwerk. Seekarten gibt es hier auch.“ zählte er auf. Dabei beobachtete er das Kind, das fasziniert durch seinen Laden lief.
Sie ließ sich alles zeigen, fand aber nicht das Richtige.
Die junge Frau hatte indes in ihrer Suche innegehalten und beobachtete das Geschehen.
Das Kind stieß schließlich einen freudigen Schrei aus „Mama! Mama! Komm! Das ist es! Das ist das Richtige für Opa!“ Er ging zusammen mit der Mutter hinüber zu dem Kind. Er stutzte und griff in das Regal. Zu hoch für die Kleine stand dort eine alte Schneekugel. In ihr ein Segelschiff, das durch tosende Wellen ritt, begleitet von einem Schneesturm, wenn man die Kugel nur kräftig genug schüttelte. Die Frau betrachtete das Fundstück skeptisch.
„Das da?“
„Ja!“ die Antwort des Kindes war eindeutig „Er erzählt mir immer von den schlimmen Stürmen auf See, vom Klabautermann und den Seeungeheuern. Das da sieht genau so aus, wie ich es mir vorstelle!“
Er musste grinsen. Denn die Vorfreude auf das Gesicht ihres Opas, wenn er die Schneekugel auspackte, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Weihnachten war etwas anderes, wenn man noch ein Kind war. Das Staunen war noch da. Noch nicht verdrängt von Hektik, Streit und Konsum.
Die beiden kauften die Schneekugel und gingen zufrieden ihrer Wege,
Er erschrak, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Die junge Frau war immer noch da, doch etwas hatte sich verändert. Ihre Augen funkelten wieder, sie waren wacher, aufmerksamer.
Erneut fragte er „Kann ich Ihnen Helfen?“
„Nein, können Sie leider nicht. Aber ich habe dennoch gefunden, was ich verloren habe.“
„Und das wäre?“ Jetzt war er doch neugierig.
„Einen Zauber, den ich als Kind über alles geliebt habe. Einen Zauber, der mit jedem Jahr mehr und mehr in Vergessenheit geriet. Einen Zauber, der Weihnachten zu etwas Besonderem gemacht hat. Einen Zauber, ohne den Weihnachten nur ein Tag von vielen ist.“
„Das Kind?“ fragte er, langsam verstehend.
„Das Kind. Und das Kind, das in mir endlich wieder wach geworden ist. Ich glaube, ich werde mir dieses Jahr einen kleinen Weihnachtsbaum holen und nur für mich schmücken.“
Mir einem Funkeln in den Augen verließ sie den Laden.
Und er? Er erinnerte sich plötzlich an die alte Truhe hinten im Lager. Die Truhe, in der der alte Schwibbogen seiner Familie lag zusammen mit der Krippe und der alten Dekoration seiner Mutter. Mit einem Lächeln im Gesicht stand er auf und fing an, seinen Laden zu dekorieren.