Krabraya devushka (von Gschichtldrucker)
Es ist schon eine ganze Weile her, seit die Uhr zwölf geschlagen hat, als es an die Tür klopft. Zwei mal. Pochpoch. Dann nichts. Lea sieht zur Mutter im Bett neben ihr. Sie liegt tief unter der Tuchent, Christl an sich gedrückt. Lea will nicht aufstehen. Die Klopfer an der Tür sollen weggehen. Sie rutscht etwas tiefer unter ihre Decke. Pochpoch.
»Mutter«, flüstert Lea. Keine Antwort. Sie schläft. »Mutter!“, flüstert sie noch einmal. Wieder nichts.
Es ist kalt, denkt Lea. Und dass es gemein ist, dass es so kalt ist. Obwohl es natürlich ist, dass es im Dezember kalt ist. Aber so kalt? Der erste Winter nach sechs Jahren Krieg sollte nicht so kalt sein. War der letzte Winter im Frieden milder? Lea kann sich nicht mehr daran erinnern. Da war sie erst acht, jetzt ist sie fünfzehn. Nein, der Winter '38 war nicht so schlimm.
Damals war der Vater noch da. Und Franz und Karl. Franz musste ein Jahr später einrücken. 1943 dann Vater. Und Karl zu Neujahr 1945. Obwohl er erst siebzehn war. Seitdem haben sie von Karl nichts mehr gehört. Von Vater kamen nur Briefe. Der letzte vor achtzehn Monate. Fronturlaube hatten beide keinen. Nur Franz. Einmal. Dann ist er gefallen. Vater hat Christl noch nie gesehen, obwohl sie nun schon fast zwei Jahre alt ist.
Pochpoch. Fordernder klingt das jetzt und Lea bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Das kommt sicher von der dünnen Rübensuppe, denkt sie. Dass es Angst sein könnte, will sie sich nicht eingestehen. Sie hat ja auch keine Angst gehabt, als die beiden besoffenen Russen kamen und Vaters Pendeluhr von der Wand nehmen wollten. Da ist sie aus dem Schrank, in dem sie sich versteckt hat. „Du nix nehmen Urra!“, hat sie gebrüllt, „Urra mein Papa!“ Die beiden haben sie verdutzt angeschaut und sind gegangen. Ohne die Uhr. Aber am nächsten Tag ist wieder ein Soldat gekommen, der Vorgesetzte der beiden Betrunkenen. Er hat mit Mutter geschimpft, weil sie Lea nicht gemeldet hat. Aber die Mutter konnte nicht, denn sie hat Lea im April im Erdkeller versteckt, aus Angst, dass ihr die Russen ein Leid antun. Bis Juni war Lea im Keller, nur in der Nacht durfte sie in die Wohnung kommen. Und dann ist das mit der Uhr passiert. Die Mutter hat sich entschuldigt und der russische Leutnant hat zu ihr nichts mehr gesagt. Nur zu Lea. Es hat sich, wie krabraya devushka angehört. Ab dieser Nacht hat sich Lea nicht mehr versteckt.
Pochpoch. Lasst uns in Ruhe, denkt Lea, ich will nicht aufstehen. Es ist zu kalt, mir ist schlecht und wir haben nichts.
Pochpoch. Nun steht Lea auf. Sie muss sich nichts anziehen, denn sie hat in ihrer Kleidung geschlafen. Kalt ist es trotzdem, weil die zwei Schaufeln Kohle vom Abend schon längst verglüht sind. Die Kohle hat sie von dem Heizer in der Fabrik bekommen. Vielleicht weil früher der Vater auch Heizer war. Arbeit hat sie aber keine bekommen. Weil sie zu schwach dafür sei. Das ist Blödsinn, meint sie, für die Arbeit bei den Bauern, denen sie im Herbst bei der Ernte geholfen hat, war sie stark genug. Zehn Eier und zwei Laibe Brot hat sie dafür bekommen.
Pochpoch. Immer heftiger wird gegen die Tür geklopft. »Wer ist da?«, ruft sie.
»Ein armer Wandersbursch, der ein Bett für die Nacht sucht«, kommt es von draußen.
Lea öffnet die Tür einen Spalt. Zwei magere Männer stehen vor ihr. Sie sehen beide gleich grau und gleich alt aus, sind es aber nicht. Der eine ist viel jünger, der andere grinst bis zu den Ohren. Lea grinst nicht. Lea weint, fällt auf die Knie, schluchzt. Dann wird sie zärtlich von dem älteren der beiden aufgehoben.
„Mutter!“, ruft sie in das Innere der Wohnung, „Der Vater und Karl sind wieder da!“