Der ewige Kampf um Worte (von writers_headroom)
Es war die Nacht vor Weihnachten. Im Grunde eine Nacht wie viele: Vor mir der Laptop, das Zimmer schwach erleuchtet von der flackernden Lichterkette am Fenster… ok, die hängt da nur im Advent, ich bin ja nicht… Ach das geht Sie nichts an. Meine Finger schwebten über der Tastatur, aber ich schrieb nichts. Der helle Bildschirm… Der helle LEERE Bildschirm starrte mich wie das Maul eines weißen Hais in dunkler See… Ok, wie auch immer… Der Punkt ist: Die große Romanidee? Fehlanzeige. Vielleicht erstmal wieder eine Kurzge…?
„Genug, wir haben genug! Das ist einfach nicht genug!“, krächzte es.
„Was?“ Einen Moment verwirrte mich die Logik dieses Satzes mehr, als die Tatsache, dass er aus unvermittelt aus meinem Laptop kam.
„Genug von diesen lächerlichen Kurzgeschichten!“
Ich sprang auf. Diese zweite Stimme war tief und bedrohlich – und kam ebenfalls aus meinem Bildschirm. Langsam hob ich den Kopf. Meine Augen wurden groß. Da war er: Dragomir, der Eisdrache aus einer meiner früheren Geschichten. Seine eisblauen Schuppen funkelten, während er seine großen Flügel anlegte. Er sah irgendwie mies gelaunt aus. Sie wollen keinen miesgelaunten Eisdrachen im Wohnzimmer, glauben Sie mir.
„Dragomir?“ Träumte ich?
„Du tust es schon wieder!“, brummte er kehlig und stieß einen kalten Nebelhauch aus. „Wieder eine Kurzgeschichte? Er streckte seinen Kopf vor und ich zuckte zurück. Seine Augen wurden rot. Oder spiegelte sich da nur eine Christbaumkugel? Hoffentlich! Zum Glück kannte er das Ding mit „Drakaris!“ nicht. Seine Geschichte war nämlich älter als Game o… Vorsicht Urheberrecht! Ermahnte ich mich und führte den Gedanken nicht weiter aus.
Wann endlich bekomme ich das epische Abenteuer das ich verdiene? Ich bin ein Eisdrache, verdammt! Geboren im alten Thule, und du steckst mich immer nur in diese… diese… Miniabenteuer! Eng wie Gletscherspalten! Es reicht.“
„Es reicht! Es reicht!““ krächzte Papo, der gelbe Papagei, der in meinen Geschichten immer dann auftauchte, wenn ich dachte, es könnte nicht seltsamer werden.
Und nun blickte auch noch Lena von innen um den Rand meines Monitors. Lena, die melancholische Pianistin. Was zum …? Sie setzte sich auf einen der großen Eiszapfen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten. Immerhin hatte sie eine rote Zipfelmütze auf. Lena war immer gut darin, die Stimmung widerzuspiegeln. Obwohl … So weihnachtlich war mir gerade gar nicht. „Weißt du, ein richtiger Roman über uns alle, das wäre doch mal was“, meinte sie, warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu und klimperte mit den Liedern. Ein bisschen verliebt bin ich schon in sie, wenn ich ehrlich bin …
Ich lehnte mich zurück und seufzte. „Leute, ich versuche es doch! Es ist nur … jedes Mal, wenn ich anfange, endet es nach ein paar Seiten. Einfach so. Wie von allein. Als ob ihr nicht länger bleiben wollt. Oder als ob jemand eine Längenbegrenzung vorgegeben hätte!“
„Jemand?“ grollte Dragomir.
„Ja.“ Ich wedelte mit der Hand in eine unbestimmte Richtung. „Jemand da draußen. Ich weiß auch nicht. Oder vielleicht auch jemand da drin.“ Ich zeigte auf den Laptop.“
„Willst du uns die Schuld zuschieben?“ Dragomir sprach unangenehm langsam. So ließ ich ihn eigentlich nur sprechen, wenn jemand Schiss vor ihm bekommen sollte. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich bekam Schiss.
„Äh … Nein, natürlich nicht. Jemand anderes. Irgendeine anonyme Vorgabe für den Text … Üble Sache! Ich leide selbst darunter! “ Probieren wir es mal mit Mitleid, dachte ich.
„Unsinn“, brummte Dragomir und schnaubte, was eine kleine Frostwolke aus seinem Maul entweichen ließ. Aber immerhin zog er den Kopf wieder etwas zurück in den Bildschirm*. Ob er überhaupt da durchpasste?* Ich sah zweifelnd den Laptopmonitor an. Wenn ich nur schnell genug auf die andere Seite … „Ich bin ein uralter Drache, ich habe nichts als Zeit. Du bist es, der ständig aufgibt.“
„Er hat recht“, stimmte Lena zu. „Vielleicht bist du einfach nicht bereit für einen großen Roman.“
„Nicht bereit?“ Jetzt wurde ich doch sauer. „Ich habe euch erschaffen, euch versucht, Tiefe und Charakter zu gegeben. Ihr seid meine Schöpfungen! Vielleicht liegt es ja an euch. Vielleicht seid ihr einfach …“ Zu flach wollte ich sagen, traute mich aber nicht. „… nicht für Romane gemacht.“
„Du wagst es, einem uralten Eisdrachen zu sagen, er sei nicht gut genug für einen Roman?“
„Roman! Roman! Roman!“ plapperte der Papagei von irgendwo oben.
Lena seufzte nur.
Mir wurde klar, dass ich diese Diskussion nicht gewinnen konnte. Zeit über Weihnachten hatte ich ja. Also knackte ich die Finger und begann: Dragomir flog über die verschneiten Gipfel Thules, auf der Jagd nach einem uralten Artefakt. Lena komponierte eine düstere Melodie, die das Schicksal aller beeinflussen würde. Der Papagei… na ja, er flatterte halt irgendwo herum und schrie „Achtung!“. Die Geschichte nahm Fahrt auf. Aufregend. Episch. Und dann …
… spürte ich es: Die Geschichte war fertig. Jetzt schon! Wieder nur eine Kurzgeschichte. Ich seufzte tief. „Es tut mir leid“, murmelte ich.
Papo hielt in der Luft an. Wie in einem Comic. Lenas Melodie verebbte. Dragomir landete und zog die Augenbraue hoch. Ok, Drachen haben keine Augenbrauen, sondern … Fass Dich kürzer, dachte ich. Die Geschichte wird zu lang für die Vorgabe. Es war wie ein Zwang.
Doch dann – ein leises Klopfen. „Was dann jetzt?“ fragte ich mich und sah auf die Uhr. Mitternacht. Weihnachten.
Verwirrt stand ich auf und öffnete. Draußen, im Schneegestöber, stand eine Figur, die aussah, als sei sie direkt aus einem Weihnachtsmärchen entstiegen. Ihre Augen funkelten wie Sterne, und sie lächelte mich geheimnisvoll an. „Fröhliche Weihnachten“, flüsterte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn.
In diesem Moment durchströmte mich eine Welle der Inspiration. Ok, diese Geschichte ist zu Ende, aber jetzt… der Roman!
Papo flatterte aufgeregt und schrie: „Frohe Weihnachten!“
Ich lehnte mich zurück und wusste, dass ich das beste Geschenk bekommen hatte, das ein Autor sich wünschen konnte: den Musenkuss.