Der gute Junge (von donald313)
Er ist so ein guter Junge, mein Neffe Karl.
Rührend, wie er sich um seine alte Tante kümmert.
Er hat mir auch den Platz hier im Pflegeheim Rheingold beschafft, wo man wirklich wunderbar um mein Wohlbefinden besorgt ist.
Karl besucht mich mindestens einmal im Monat. Und obwohl er doch so ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, nimmt er mir all den lästigen Bürokram ab, den ich mit der Verwaltung meiner Häuser habe. Er kümmert sich auch um meine Villa am See und vor allem um meinen Pudel Knuffl. Knuffl liebt Karl inzwischen mindestens so sehr wie mich, da bin ich mir sicher.
Dafür habe ich ihn auch in meinem Testament bedacht, habe ich ihm gesagt. Er soll schließlich eine Freude haben, wenn ich einmal nicht mehr bin.
Der gute Junge. Beim letzten Besuch hat er mir sogar einen Adventskalender mitgebracht. „Damit du auch jeden Tag an mich denkst, wenn du das Türchen öffnest“, waren seine Worte.
Es ist ein wunderschöner Kalender. Und jeden Tag erwartet mich eine neue, leckere Praline. „Natürlich Diabetiker-Pralinen, liebe Tante!“ hat Karl gesagt.
Der gute Junge. Er denkt wirklich an alles.
Gestern war es eine Nougatpraline, vorgestern sogar eine mit Eierlikör. Karl weiß, dass ich Eierlikör liebe.
Und heute … ich kann es kaum erwarten. Ich öffne das kleine Türchen, was dank meiner langen Fingernägel gut gelingt, und greife hinein. Eine dunkle, wohlgerundete Praline. Sie duftet leicht nach Kirschwasser. Ich schließe die Augen, beiße hinein und genieße, wie das herrliche Stück auf meiner Zunge zergeht, sich das Kirschwasser zerteilt, köstlich meinen Rachen benetzt.
Als ich hinuntergeschluckt habe, prickelt es immer noch auf meiner Zunge. Auch meine Lippe kitzelt. Das muss der Alkohol sein, denke ich. Den habe ich noch nie gut vertragen.
Doch jetzt wird meine Zunge merkwürdig schwer. Sie schwillt, füllt fast den ganzen Mund.
„Erdnuss!“ schießt es mir durch den Kopf.
„Da muss Erdnuss in der Praline gewesen sein! Obwohl der Karl doch weiß, dass ich schwer allergisch bin!“
Mein Puls beginnt zu rasen, das Atmen fällt mir schwer. Ich brauche mein Spritzgerät, das mir der Arzt für den Notfall gegeben hat. Mühsam wende ich den Rollstuhl, schiebe ihn zu der kleinen Kommode. Mir wird schwindlig. In der obersten Schublade ist das Set mit den Medikamenten. Karl hat sie erst bei seinem letzten Besuch neu aufgefüllt.
Der gute Junge.
Ich nestele mit zittrigen Fingern das Spritzgerät aus der Packung, setze es auf meinen Oberschenkel und drücke ab. Das Adrenalin wird jeden Moment wirken und mich retten. Jetzt noch schnell das Fläschchen mit den Allergietropfen austrinken. Den Deckel abschrauben und herunter damit. Merkwürdig. Die Flüssigkeit schmeckt … wie Wasser?
Das Adrenalin scheint komischerweise auch nicht zu wirken. Ich bekomme keine Luft mehr. Mein ganzes Gesicht ist geschwollen, mir wird übel, der Schweiß bricht mir aus. Dann sinkt ein schwarzer Vorhang vor meinen Augen.
„Spreche ich mit Karl Sondermann?“, sagt die Stimme am Telefon. „Ich bin die Leiterin des Pflegeheims Rheingold. Ich muss Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, dass Ihre Tante einen schweren allergischen Schock hatte. So schwer, dass die Notfallmedikamente nicht mehr geholfen haben. Ihre Tante ist leider verstorben.“
Ich gebe mich bestürzt, aber gefasst. In Wirklichkeit habe ich ja nur auf den Anruf gewartet. Mein Puls hüpft vor erwartungsvoller Freude.
Endlich am Ziel. Endlich das Erbe antreten, das mir von der alten Schachtel schon so lange vorenthalten wurde. Dabei brauche ich die Kohle dringend. Meine Tante dachte ja, ich sei ein erfolgreicher Anlageberater. Sie hat mir sogar 5.000 Euro gegeben, damit ich „was draus mache“. Pustekuchen. Die Kohle ist natürlich längst weg. Und ich kann schauen, wie ich ihren blöden Pudel durchfüttere. Ich, mit meiner Hundeallergie.
„Da ist noch etwas“, sagt die Heimleiterin. „Ihre Tante hat letzte Woche mit unserem Notar ein neues Testament aufgesetzt. Sie war ja wirklich so ein großartiger Mensch. Ihr ganzes Vermögen hat sie unserem Pflegeheim vermacht. Sie bräuchten es ja nicht, hat sie gesagt. Sie sind ja selbst ein erfolgreicher Geschäftsmann. Aber ihre Tante hat sie natürlich nicht vergessen. Sie bekommen das Liebste, was sie hatte. Ihren Pudel Knuffl!“