Adventskalender - 08.12.2024

Advent (von Erklärbär)

Der Neue passte nicht in Ihre Siedlung.

Er stand neben Rick und Ohle, gestikulierte und lachte. Wirkte kerngesund und ein wenig zu schnieke. Ohle dagegen sah wie immer aus; als würde er jeden Moment umfallen und sein Leben aushauchen. Blass war er, mager und ziemlich mitgenommen. Der Alkohol zeichnete sie alle.

Rick aß zu viel süßen Dreck. Er wurde immer runder und schwerfälliger. Seine Schuhe waren seitlich stark abgelaufen. Er watschelte beim Gehen, und wenn man ihn hinterher sah, kippte sein Kopf von links nach rechts, von rechts nach links. Ein Alptraum für jeden Scharfschützen, dachte Michael und schmatzte laut mit den Lippen. Das tat er immer, wenn er schlechte Laune hatte.

Er blickte nach rechts, sah die Siedlung entlang. So nannten sie die Anhäufung von Zelten und Papphütten unter der Brücke. Seit 5 Jahren lebte er unter den anderen Heimatlosen. Die kleinen Schlafstätten änderten sich nie, nur ihre Bewohner wechselten immerzu. Seit einer Woche war Rotze nicht mehr aufgetaucht. Seine Papphütte fiel bereits zusammen. Vielleicht war er weitergezogen, eventuell schlief er die Tage lieber in einer Bahnhofsmission. Rheuma war hier draußen die Hölle und sein Körper war davon bereits gezeichnet.

Er hörte Schritte und wandte sich nach links. Der Neue kam auf ihn zu, nickte kurz und deutete auf den Platz neben ihm. »Darf ich?«

»Kann ich´s verhindern?«

»Klar, aber hier unten ist Gesellschaft keine schlechte Sache.«

»Wenn du meinst. Aber zum Plausch bin ich nicht aufgelegt. Also überleg´s dir.«

Der Neue nahm neben ihm Platz und atmete geräuschvoll aus. Sah wie ein Öko aus. Längeres Haar, dunkel, vielleicht muslimische Wurzeln. Lange Zeit saßen sie nur beieinander.

»Wie heißt du?«, fragte der Öko.

»Michael. Mehr muss keiner wissen.«

»Bald ist erster Advent.«

»Schert mich nicht.«

»Ist schon lustig, wie das ganze Gewese um den Advent herum entstanden ist.«

»Hör mal, ich hab keinen Kalender für dich. Weder Schokolade noch was anderes. Frag Rick mal danach. Er könnte noch einige Riegel in der Hosentasche haben.«

Der Neue sah ihn von der Seite an. »Vielleicht mag es nicht hilfreich sein, aber ich erzähle dir trotzdem was dazu.«

Michael seufzte. »Na dann halt dich nicht zurück. Ich bin ganz Ohr.« Einen Scheiß würde er zuhören.

»Das Ganze hat als Fastenzeit angefangen. Zu Beginn hat man drei Tage gefastet, später außer Samstag und Sonntag jeden Tag. Das sollte als Vorbereitung auf das Geburtsfest Jesu dienen. Erst im siebten Jahrhundert wurde der Advent so begangen, wie es aktuell gefeiert wird. Es gab wohl ein paar Ausreißer in den lateinischen Kirchen, aber irgendwann hat man sich auf 4 Wochen vor Weihnachten geeignet. Kannst du alles auf Wikipedia nachlesen.«

»Wo hab ich nur mein Iphone hingelegt, muss ich gleich mal googeln.«

Der Neue lachte. »Ist wirklich keine interessante Geschichte.« Er beugte sich nach vorne und starrte zu Boden.

Michael wollte nicht zu ihm sehen, er tat es dennoch. Kaum wahrnehmbare, feine Narben liefen seine Stirn hinab. Wie kleine Rinnsale. Die Nase hatte einen kleinen Buckel. Definitiv muslimisch. Hätte er einen Bart getragen, wäre er für die Rolle des Jesu geradezu perfekt.

»Warum wolltest du sie dann unbedingt loswerden?«

»Na ja, letztendlich geht es um die Ankunft des Göttlichen in dieser Welt. Um die Erscheinung des Herrn sozusagen. An sein Versprechen den Menschen gegenüber.«

»Daran glaubt doch kein Mensch mehr.« Michael sah wieder nach rechts in Richtung der Siedlung. »Gott kümmert sich einen Dreck um uns. Die Kirche hat den ganzen Scheiß erfunden. Wenn ihr nicht hört, werdet ihr in der Hölle braten, im ewigen Fegefeuer. So hat man die Menschen gefügig gemacht. Brennen werdet ihr. Aber er liebt euch, dieser rachsüchtige Gott. Und er braucht euer Geld!«

Der Öko legte die Hand auf seinen Arm. Michael starrte sie an. Eine dicke, runde Narbe prangte hinter dem Handgelenk. Als hätte er sich verbrannt, oder einen Selbstmordversuch hinter sich. Schnell wandte er sich ab. Sein Herz schlug schneller, ihm wurde ganz komisch.

»Jahwe ist in der Tat kein lauter Gott. Er gibt den Menschen die Freiheit, selbst zu entscheiden. Im Guten ebenso wie im Bösen. Aber er sieht dich. Euch alle. Den Weg, den ihr wählt. Oder was euch widerfährt. Nicht er richtet am Ende über euch. Ihr selbst werdet es tun. Und Gerechtigkeit erfahren.«

Michael schnaubte leise. Er wollte widersprechen, etwas Gemeines sagen und all die Wut, den Frust und Schmerz seines erbärmlichen Lebens hinausschreien. Doch stattdessen sah er den Neuen an. Sah in dessen Augen. Blickte auf die Wunde an seinem Handgelenk und schluckte die Tränen hinunter.

»Woher willst du das denn wissen«, fragte er, kannte die Antwort aber bereits. Die Trauer brach in abgehakten Schluchzern aus ihm heraus. Er weinte tatsächlich. Um seine Tochter, deren Verlust sein Leben in ein großes, schwarzes Loch verwandelt hatte. Anders als sonst wirkte es befreiend, heilend. Der Neue rückte an ihn heran und legte den Arm um ihn. Von sich selbst überrascht ließ er es zu. Müde war er. Diese Art Müdigkeit, wenn man eine große Last abgeworfen hatte und dann begreift, wie schwer sie gewesen war. Schluchzend sank er dem Neuen entgegen. Die Tränen wollten gar nicht mehr versiegen.

»Ich bin mit euch, jetzt und für alle Zeit«

Michael glaubte ihm.

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Euch einen schönen zweiten Advent!

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Dir auch

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Eine sehr tiefgründige Geschichte. Danke dafür :heart:

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Vom Schmunzeln (Ein Alptraum für jeden Scharfschützen) zum Tränchen (Schluchzend sank er dem Neuen entgegen).

Vielen Dank für diese tiefgründige Geschichte.

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Ja, tiefgründig. Danke. Und einen schönen 2. Advent :blush:

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Mir fehlen die Worte. Und das heißt was, Erklärbär! Einen schönen zweiten Adventsonntag aus Wien euch allen.

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Wow.

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Berührend. Danke für die schöne Geschichte, Erklärbär.

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Wunderschön!
Der Geist in mir, der stets verneint, ist gerade ganz leise…
Danke für dieses Gefühl. :christmas_tree::heart:

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Touché!
Einen besinnlichen 2. Advent wünsche ich! :candle: :candle:

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Wow, so schön. Ich mag Geschichten, die einen überraschen. Erst dachte ich an eine gelangweilte Jugendgang und habe herzhaft gelacht bei…ein Alptraum für jeden Scharfschützen…und dann so eine Wendung. Richtig gut.

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Euch allen einen schönen :sparkles: 2. Advent.

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Eine schöne, berührende Geschichte. Beim Lesen hatte ich so viele Fragen in meinem Kopf, so mysteriös fand ich sie.

Einen schönen 2. Advent euch allen

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Überraschend und berührend, ich dachte auch zuerst an irgendeine thrillermäßige Wendung.
Danke für die tolle Story!

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