Advent zwischen Erinnern und Vergessen

Ich habe meinen Gewinn eingelöst und die folgenden ersten ‚Papyrus 12‘-Wörter geschrieben. Das Programm ist bestechend schön und ich freue mich auf die Weihnachtsfeiertage und die Zeit, die ich mir zum Entdecken gönnen werde. Frohe Weihnachten Euch allen!

Die Altbauwohnung mittenmang in Hannover fühlte sich an wie purer Luxus nach all den Entbehrungen. Eine Durchgangswohnung zum Hinterhof mit zwei Eingängen, ein asphaltierter Hof mit Teppichstange. Kochwäsche brodelte im Zinktopf mit Thermometer auf dem Küchenherd und kam anschließend zum Trocknen auf den Dachboden. Die vierjährige Tochter ‚half‘ beim Zuppeln, Recken und Ziehen und machte sich dabei vor Lachen fast in die Hose. In dem Alter betrachtete sie viele Dinge von ihrer heiteren Seite – während die Mutter das Lachen erst wieder lernen musste. Die Nachbarn tuschelten, warnten einander, ihre Wäsche nicht zur gleichen Zeit aufzuhängen, denn sie waren DDR-Flüchtlinge und wie die waren, wusste man ja: nicht besser als Zigeuner*! Ab und zu kam ein Leierkastenmann in den Hinterhof gefahren und führte ein Äffchen mit affigem Jäckchen an einer langen Leine mit, das die eingewickelten Pfennige oder Groschen, die vereinzelt aus den Fenstern regneten, aufsammelte. Die Kinder halfen und gackerten vor Freude über die Abwechslung.

Im Winter 1958 nahm der bullernde Ofen im Wohnzimmer seinen Auftrag, die gesamte Wohnung zu heizen, ernst und wurde zum schwarzen, heißblütigen Monster, dem man keinesfalls zu nahe kommen durfte. Hinter einem Vorhang versteckte sich das elterliche Doppelbett vor neugierigen Besucheraugen. Eine bescheidene Intimsphäre im Mittelpunkt des familiären Geschehens. Zwei weitere kleine Zimmer mit Platz für zwei Betten in einem, einer Schlafcouch und einen Sessel in dem anderen. Küche, Bad und fertig. Aber einen sage und schreibe zehn Meter langen, stets glatt gebohnerten Flur gab es noch, auf dem die Vierjährige auf ihrem krummbuckligen Teddy entlang rodelte. »Kind, das tut ihm doch weh«, sagten Mutti und die ‚Große Omi‘ dann immer und klangen dabei unecht traurig – es gab noch eine ‚Kleine Omi‘, die lebte aber noch mit dem dazugehörigen Opa im Osten – doch die Göre lachte nur und nahm erneut Anlauf. Dicki hieß ihr ockergelber Liebling und er würde noch einige Friseurbesuche, mehrere Blinddarmoperationen, bei denen reichlich Holzwolle floss, und etliche Vollbäder zu erdulden haben, genauso wie der kleinere Leusi, ihr Zweitliebster.

Zu fünft auf nur wenigen Quadratmetern. Vier Erwachsene mit unterschiedlichen Arbeitszeiten, ein Kind, das anfänglich in einem Kinderheim untergebracht und nur an den Wochenenden zuhause war. Nachdem die Eltern mit dem kleinen Mädchen eingezogen waren, sollten Muttis Eltern mit dem Onkel aus einem Übergangslager dazukommen, aber der Opa hatte es nicht mehr geschafft. Sein Herz, in tausend Scherben zerbrochen wegen einer erlittenen Ungerechtigkeit eines Schauprozesses in einem russischen Betrieb und der überstürzten Flucht aus der noch in den Kinderschuhen steckenden DDR. Statt seiner zog der rasiermesserscharfe Schmerz der Trauer zu und schlich wie ein übellauniger Geist durch die Räume.

Ein weiteres Weihnachten steht bevor, mit dem unbändigen Sehnen nach Ruhe, nach Frieden, mit dem Traum nach einer lebenswerten Zukunft. Sonntag. Vier rote Kerzen brennen, grünnadelig umrahmt auf einem Keramikteller. Vati und der jugendliche Onkel knacken Haselnüsse und das Mädchen geht abwechselnd bei ihnen betteln. Will immer die ganzen Kerne, nicht die zerbröselten. Sie kassiert einen Anranzer, weil sie mit den Tannennadeln kokelt, aber sie kann dem Geruch nicht widerstehen. Die beiden Frauen lesen, stricken, stopfen, raten Kreuzworträtsel oder schreiben Weihnachtsbriefe in die alte Heimat. Es gibt frisches Obst, denn die ‚Große Omi‘ schuftet auf dem Obstmarkt, schleppt Gemüsekisten und bringt immer irgendetwas mit, was angeschlagen oder nicht mehr für den Verkauf geeignet ist. Ein Knochenjob, den sie schon in aller Herrgottsfrühe antreten muss. Mutti erhebt sich vom Sofa, sie fröstelt und stellt sich mit dem Rücken vor den Ofen, lupft den Rock hinten hoch, damit der Pöter warm wird und fragt das Kind, ob es das Weihnachtsgedicht schon kann. »Sag‘s doch mal auf«.
Die Kleine stöhnt, steht auf und beginnt: »Draußen vom Walde, da komm ich her …«
Noch während sie rezitiert, bückt sich Mutti nach einem Wollfussel und … schreit auf. Sie hat nicht mehr an den glühend heißen Ofen gedacht! Ihr verlängerter Rücken würde sie noch lange Zeit schmerzhaft daran erinnern!

Ich denke an diese erste eigene Adventserinnerung zurück, die über das Maß eines einzigen Bildes hinausgeht und die ich nicht nur erlebe, sondern mit allen Sinnen gespeichert habe. Ich sah keinen Mangel, weil ich keinen materiellen Überfluss kannte. Und ich empfand die Enge der Räume wie eine feste Umarmung, randvoll mit familiärer Liebe und Zusammenhalt. So eng saßen wir nie wieder beieinander. Erst viel später erfuhr ich, wie belastend die Zeit für die Erwachsenen war. Um so dankbarer bin ich ihnen, dass sie das vor mir, dem Kind, verbargen. Sie alle sind mir den letzten Schritt voraus und inzwischen gegangen, bis auf meinen Onkel, der am Tag nach Weihnachten siebenundachtzig Jahre alt wird. Morbus Alzheimer hat ihm sämtliche Erinnerungen, gute wie schlechte, geraubt, weshalb er heute so alt wirkt, wie ich in jenen Tagen war.

*In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts titulierte man Sinti und Roma noch so. Doch selbst wenn die Menschen die heute korrekte Bezeichnung der Ethnie verwendet hätten, wäre sie leider in diskriminierendem Kontext gemeint gewesen.

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Das trifft! Bei mir war es ähnlich, wenn auch schon viel luxuriöser. Dennoch erschien mir mein Elternhaus, in dem wir zu Dritt auf „nur“ 65qm gelebt haben, nach dem Tod meines Vaters und dem Verkauf des Objektes als viel zu klein für eine Familie. Es kommt eben immer auf die eigenen Erfahrungen und den Vergleich an.

Als Kind kam mir das alte Zechenhaus nie zu klein vor.

Danke für die Erinnerungen!

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Vielleicht wächst man mit seinen Ansprüchen und benötigt dem entsprechend mehr Raum. Danke für Dein nettes Feedback!

Liebe Heather, ein sehr berührender Text. Man spürt, wie er aus dir heraus möchte. So schön, dass du es kannst. Erinnerungen sind kostbar und tiefgründige Menschen eine Seltenheit.
Familienverbundenheit kann man nicht kaufen. Kein Luxus der Welt allein, macht einen glücklich.

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