Hallo Zusammen…
Wer kennt das nicht? Die Glückwunsch-SMS :zu Silvester, wie zum Beispiel:
„Geh’ ins neue Jahr mit Mut, dann wird auch alles gut.“
„Lass die Korken knallen und die Sorgen hinter dir – das neue Jahr gehört dir!“
„Ein neues Jahr, ein neues Glück – pack es an, Schritt für Schritt!“
Dazu die süßen Schweinchen-Bilder … Dieses Jahr schicke ich meinen Freunden und Bekannten einen kurzen Spruch – und einigen sogar eine Geschichte. …
Claire saß in ihrer kleinen, viel zu stillen Wohnung. Das halbleere Glas Rotwein in der Hand war ihr treuster Begleiter dieses Jahres gewesen, ihr einziger Zeuge in einem Drama voller Pleiten, Pannen und einem Schuss Tragikomödie. Die Kerzen flackerten unruhig, als würde die Dunkelheit dahinter etwas verbergen wollen. Die Stadt draußen war leise – zu leise. Kein Festtagsjubel, kein Lachen, nur das stete Kratzen des Windes, der mit den Resten von Weihnachten spielte .
Dann hörte sie es. Ein Kratzen – diesmal nicht vom Wind, sondern von etwas Lebendigem. Langsam drehte sie den Kopf Richtung Fenster. Und da stand es: eine Gestalt, schemenhaft, wie aus Rauch und Schatten gesponnen. Augen, die wie alte, erloschene Sterne funkelten, starrten sie an.
„Du musst Claire sein“, sagte es, die Stimme ein hohles Echo, das sich in ihren Knochen festsetzte.
„Und du bist… der Tod?“ Sie setzte das Glas ab, überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.
Das Wesen lachte trocken. „Nein, ich bin schlimmer. Ich bin 2024.“
Claire hob eine Braue. „Soll das ein Witz sein? Soll ich lachen oder weinen?“
„Beides, wenn du klug bist“, antwortete 2024 und trat ins Zimmer. Jetzt konnte sie es klarer sehen: Ein abgenutzter Anzug, dessen Ärmel wie abgerissene Kalenderblätter flatterten. Die Augen trugen die Müdigkeit eines Jahres, das mehr Drama erlebt hatte, als jede Soap-Opera je ertragen könnte.
„Ich dachte, ich verabschiede mich persönlich“, sagte es mit einem Hauch Sarkasmus, während es sich unaufgefordert in ihren Sessel fallen ließ. „Ich meine, wir hatten ja eine… besondere Beziehung, nicht wahr?“
„Ach ja, unvergesslich“, spottete Claire. „Du meinst die Trennung von Marc, die Kündigung, die verdammte Heizungsreparatur, die mich fast ruiniert hätte, und – ach ja – die Wochen, in denen ich mich gefragt habe, ob ich überhaupt noch existiere.“
„Ach komm schon“, 2024 winkte ab. „Es war nicht alles schlecht. Erinnerst du dich an März? Du hast endlich gelernt, dieses Sauerteigbrot zu backen.“
„März?“, fauchte Claire. „Der Monat, in dem meine Waschmaschine explodierte?“
„Nun gut…“, murmelte 2024 und zog ein zerfleddertes Notizbuch aus seiner Brusttasche.
„April war besser, oder? Da hast du diesen Kerl auf Tinder getroffen.“
Claire verschränkte die Arme. „Der sich als verheiratet herausstellte.“
„Ah. Ja.“ Es blätterte hektisch weiter. „Aber Mai! Mai war doch nett, oder? Ein bisschen Sonne, ein bisschen Hoffnung…“
„Mai war der Monat, in dem mein Auto den Geist aufgab.“
2024 seufzte schwer, als ob die Last seiner eigenen Existenz ihm zu viel wurde. „Gut, gut. Ich gebe zu, ich war kein großartiges Jahr. Aber hey, wenigstens habe ich dir den Juni geschenkt.“
Claire kniff die Augen zusammen. „Den Monat mit der Ratte in meiner Küche?“
„Eine Ratte ist auch nur ein Lebewesen!“, protestierte 2024 mit gespielter Empörung.
„Und was war mit November?“, fuhr Claire fort. „Ich habe drei Wochen im Bett verbracht – mit Grippe!“
„Ja, aber du hast doch Netflix genossen, oder? Kleine Siege, Claire, kleine Siege.“
Sie konnte nicht anders, sie lachte auf. Es war dieses gallige Lachen, das nur jemand verstehen konnte, der das Leben schon hundert Mal verflucht hatte.
„Weißt du was?“, sagte sie schließlich. „Ich bin froh, dass du gehst. Ehrlich. Ein schlechter Ex, der mich jedes Mal enttäuscht hat, wenn ich ihm eine Chance geben wollte.“
2024 grinste und stand auf. „Ich kann’s dir nicht verübeln. Aber pass auf – 2025 steht schon draußen und wartet darauf, reinzukommen. Es ist jung, frisch und… hungrig.“
Claire lehnte sich zurück, hob ihr Glas und prostete dem Schatten zu.
„Na los, 2025. Zeig, was du drauf hast. Aber ich warne dich – ich bin nicht mehr so leicht zu brechen.“
Mit einem letzten, schelmischen Lächeln verschwand 2024 in einem Hauch aus Rauch und Staub. Der erste Gong hallte durch die Stadt, und das neue Jahr schlich sich an, bereit, sein eigenes Kapitel zu schreiben.
Ein neues Jahr. Ein neuer Tanz. Mal sehen, wer diesmal führt.
© AnnaAingealBruna